„Sie haben für heute keine Termine geplant“, schreibt mir meine Kalender-App heute morgen. Und treffender kann ich den Tag eines erneuten Geisterderbys nicht beschreiben. Es fehlt etwas. Ich bin nicht mit einem Kribbeln aufgewacht. Ich werde nicht wie in Trance heute meine Arbeit verrichten, weil ich an nichts anderes denken kann. Und ich werde nicht mit der ganzen Familie wie beim letzten Heimspiel-Derby durch einen ganzen Schwarm Hertha-Fans am Bahnhof Wuhlheide laufen. Wird mir das heute fehlen? Ich bin da bei Urs Fischer, der diese Woche zum Thema Geisterspiele, und wie er sich darauf eingestellt hat, sagte: „Gar nicht. Ich habe höchstens gelernt, damit klarzukommen.“
Fehlt uns das Derby? Nein, wahrscheinlich nicht mehr als jedes Fußballspiel aktuell. Aber wir fehlen dem Derby. Menschen erleben und erzählen Geschichten. Auch von Derbys. Ohne Menschen ist Fußball nur Sport. Und Hertha gegen Union nur ein Fußballspiel. Die Menschen sind nicht zu ersetzen. Nicht durch Pappkameraden. Nicht durch Fähnchen. Und nicht durch Social-Media-Accounts.
Eine Nachricht von unserem Kapitän, Christopher Trimmel! ??#fcunion | #BSCFCU pic.twitter.com/OLMcAUFxMb
— 1. FC Union Berlin (@fcunion) December 3, 2020
Ich bin sehr froh, dass Christopher Trimmel diese besondere Stimmung versteht und weiß, was das heute ist. Es ist ein trauriger Tag. Und ich hoffe, dass die Mannschaft heute im leeren Olympiastadion das mit sich tragen kann, dass sie heute stellvertretend für alle da ist, die nicht da sein können. Und für alle, die gerade durch eine schwere Zeit gehen. Auch wenn wir irgendwie gelernt, haben seit Monaten mit der Pandemie und ihren Auswirkungen klarzukommen. Gewöhnt hat sich trotzdem wohl niemand daran.
Hertha spielt nicht gegen den 1. FC Kruse
Wenn ich die Berichterstattung der vergangenen Tage so verfolgt habe, konnte ich schon den Eindruck gewinnen, Hertha würde gegen den 1. FC Kruse antreten, so sehr wird Unions Spiel auf den Offensivspieler reduziert. Es ist ein oberflächlicher Blick auf Union, der einen zu diesem Schluss kommen lässt. Das hat auch der Tagesspiegel in seiner gestrigen Analyse herausgearbeitet.
Denn es ist die gesamte Mannschaft, die sich eine Marschrichtung setzt im Spiel. Und die muss nicht zwangsläufig Offensive galore bedeuten, sondern kann sich auch in ekligen Zweikämpfen ausdrücken. Und dann sorgt Max Kruse eben mal für ein wichtiges Foul. Denn er ist Teil des Teams auf dem Platz und verlangt dort keine Sonderstellung. Er nimmt sich eben nicht aus der defensiven Arbeit heraus. Sein Talent besteht darin, das Spiel schneller zu machen und die Talente seiner Mitspieler zur Geltung zu bringen.
Ich bin gespannt, ob Hertha einen ähnlichen Fehlschluss zieht wie Köln und eine Sonderbewachung für Max Kruse abstellt. Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, weil Trainer Bruno Labbadia seiner Mannschaft damit einen Spieler rauben würde.
Was ist die große Erzählung dieses Derbys?
In den vergangenen Derbys ging es immer wieder um die Frage, warum Hertha und Union keine Freundschaft mehr verbinden würde. Auf diese Frage möchte ich immer antworten: Lieber eine Rivalität zwischen beiden Vereinen als jemals wieder eine Mauer durch die Stadt. Ich finde, dass ESPN für die englischsprachige Welt diese Geschichte noch einmal gut aufbereitet hat.
Aber die aktuelle Debatte beherrscht das Thema kaum noch. Da geht es mehr um Identität, wie beispielsweise dieser Text des Tagesspiegels gut zeigt. Die Sehnsucht von Herthafans danach, dass sich ihr Club authentisch zeigt. Und zwar so authentisch wie sie als Fans sind. Denn von denen wird wohl kaum jemand im Soho House sitzen oder überhaupt den Mitte-Style pflegen. Und wenn dann höchstens den von Moabit, weil häufig vergessen wird, dass das mittlerweile auch Berlin-Mitte ist.
Derbystimmung in Berlin#bscfcu #fcunion pic.twitter.com/QE3EBDl6gS
— Sebastian Fiebrig (@saumselig) December 1, 2020
Ich hoffe ehrlich gesagt, dass sich die Hoffnung der aktiven Herthafans wie beispielsweise der Axel-Kruse-Jugend erfüllt und sich die Authentizität der Club-Offiziellen nicht in diesem Erna-Kasuppke-Twitter-Account erschöpft, den man gerade gestartet hat.
Von dem 0:4 in der Rückrunde der vergangenen Saison ausgehend, glaube ich, dass wir keine große Erzählung sehen werden. Die Umstände sind einfach zu besonders. Und es ist zu sehr auf die Spieler fokussiert. Niemand wird im Stadion ausrasten, egal wie das Spiel ausgeht. Niemand wird danach im Preußischen Landgasthof versumpfen und die legendärste Nacht erleben, an die man sich nicht mehr erinnern kann.
Die reiche @herthabsc wankt, der Rivale @fcunion brilliert. In der Hauptstadt diskutieren Fans über eine Wachablösung. Doch das Tabellen-Bild ist verzerrt. #berlin @bundesliga_de #fussball #bundesliga @DFL_official https://t.co/g21HTIywNM
— ZDF Sport (@ZDFsport) November 21, 2020
Und erst recht wird es die Erzählung der Wachablösung in Berlin nicht von den Schreibtischen von Sportredaktionen außerhalb von Berlin weg schaffen. Wie sehr muss man den Blick von der Wirklichkeit, von den Zahlen und Fakten entfernen, um von einer Wachablösung zu sprechen? Nur weil Union mal in der Tabelle über Hertha steht …
Was die Erzählung der Vormachtstellung in Berlin betrifft … Ich glaube, dass wir alle wissen, dass diese Stadt so groß und vielfältig ist, dass nie ein Club, egal welcher Sportart, die ganze Stadt beherrschen wird. Es ist angesichts der Zuwanderungs-Geschichte der Stadt schon eine Leistung, dass es überhaupt wieder Berliner Clubs sind, die hier wieder eine Bedeutung haben und nicht Dortmund, Köln oder andere.
Das sind die Berichte der Berliner Medien:
- Ein Fall für zwei (Tagesspiegel)
- Nur ihr Stadion mögen se nich (Tagesspiegel über die Bau-Schwierigkeiten beider Clubs)
- Der charismatische Baumarktmitarbeiter (Berliner Zeitung)
- Hertha hat im Derby die besseren Karten (Morgenpost, Bezahl-Artikel)
- Maxt Kruse sich heute zur Union-Legende? (Bild, nicht online)
- Warum ich heute Union die Daumen drücke! (Bild)
- Das verdient man bei Union Berlin (Bild, Bezahl-Artikel)
- Kruse gegen Cunha: Das Duell der Alleinunterhalter (RBB)
- Ein Derby mit umgekehrten Vorzeichen (HerthaBase)
- Max Kruse ist der letzte seiner Art (Morgenpost, Bezahl-Artikel)
- Das erste Derby zwischen Hertha und Union ist kaum bekannt (Tagesspiegel)
Guten Morgen. Heute ist #Derby-Tag. Mögen die Besseren gewinnen (??). Und das Fucking-Virus nicht. Demnächst hoffentlich wieder im Stadion. Bleibt gesund! @fcunion @HerthaBSC @schluesselburg @heikoherberg pic.twitter.com/W1s8Hb2g3z
— Tobias Schulze (@Tobias_Schulze) December 4, 2020
Und sonst so?
Eigentlich sollte Max Kruse am Sonntag in München im Doppelpass zu Gast sein. Da er aber nun doch nicht reisen darf, wird er zugeschaltet. Das ist einerseits okay, denn er ist ja trotzdem da. Aber andererseits ist das schade, weil ich am Sonntag in München sitzen werde. Da hätte ich mir die Reise auch sparen und mich in Berlin zu Max Kruse setzen können.
Ich weiß natürlich, dass es besondere Umstände sind (Sonderspielbetrieb und die Spieler sind angehalten, sich nicht vorsätzlich in eine ungetestete Umgebung zu begeben). Wer also Zeit und Lust hat, kann am Sonntag Vormittag um 11 Uhr mal Sport1 einschalten.
Doppelpass mit Max Kruse! #Dopa #Kruse #FCUnion #Bundesliga https://t.co/snmqsHfFqq
— SPORT1 (@SPORT1) December 2, 2020
Tippen nicht vergessen
Tusche tippt auf ein 3:1 für Union. Wie sieht es bei euch aus? Vergesst nicht, eure Spieltagstipps in der Tipperförsterei zu hinterlassen.
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Im Morgengrauen ersonnen,
notiere ich meinen Tipp!
Viele Punkte werd' ich bekommen,
bis ich Tippspielmeister bin!
??10. Spieltag und Stadtderby! ????https://t.co/ZerJ0TH7oo#tipperfoersterei #fcunion pic.twitter.com/K4B3uZmaTS
— Der Tipperförster (@tipperfoerster) December 3, 2020
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„0:4 im Hinspiel“ – sind wir schon wieder in der Rückrunde? :)
@basti für mich ist Corona wie eine Saison … Im Ernst: Habe ich korrigiert. Danke dir für den Hinweis.
Da ist ein Tagesspiegel Artikel 2x verlinkt und in dem 2. steht wenig zum Thema Identität
@booty Ups, ein Versehen. Der zweite Artikel sollte dieser sein.
Hertha gegen Max Kruse ? Sehr gut, dann sollten die anderen Zehn ja genug Raum haben um alles klar zu machen :-)
Der Countdown läuft. Danke Sebastian für deinen gut ausbalancierten Beitrag. Ein Derby ohne Fans ist auch für mich nur ein halbes Derby, aber real da den aktuellen Umständen angepasst. Ich/wir freuen uns nun auf heute abend und werden das sportliche Duell im kleinen Freundeskreis mit Schal, Bratwurst und Bier gemeinsam erleben. Somit ist das Glas doch halb voll.
Eiserne Grüsse und bleibt hoffentlich weiterhin alle gesund.
Damit alle gesund bleiben können, ist es vor allem wichtig, dass sich alle an die Auflagen und Appelle der Regierenden und der Wissenschaftler halten.
„Aber andererseits ist das schade, weil ich am Sonntag in München sitzen werde.“
Beim „Doppelplass“? Wegen des Jobs oder freiwillig?
Im ersten Fall – mein Beileid.
Im letzten Fall – gib dich nicht auf, dir kann geholfen werden.
;-)
@DerSepp Ich trenne sehr strikt zwischen Job und dem, was ich hier mache. Das bitte ich zu respektieren. Ich bin beim Dopa als Blogger und Podcaster. Und nein, mich hat keiner gezwungen. Ich hatte kurz überlegt und dachte, das könnte eine interessante Erfahrung werden.
Ich kann die Einstellungen wie „über Hertha denken wir nicht nach“ und „das Derby fehlt uns nicht“ nachvollziehen, mich lässt es aber nicht so kalt. Ich fände es dufte wenn wir heute abend gewinnen und morgen als Stadtmeister aufwachen. Klar sind die aktuellen Umstände so, dass es nicht ansatzweise mit den Derbys vor Publikum zu vergleichen ist, aber die Situation ist halt gerade so. Das müssen wir annehmen und es wird auch wieder anders.
Fand den Einblick in das Team spannend welchen Stellenwert das Derby hatte (sorry, ich hab den Link zum Interview gestern oder heute bestimmt im SotU überlesen):
https://www.rbb24.de/sport/beitrag/2020/12/interview-sebastian-polter-ex-union-berlin-derbyheld.html
Wenn ich dir ein paar multimediale Tipps geben darf: Lass dich nicht als possierliches Maskottchen missbrauchen, dass mal seine independentige Sicht auf die Dinge darstellen darf. Lass dich nicht benutzen, um „dem Rest der Fußballwelt“ zu erklären, was und wie Union ist. Wer das herausfinden will hat genug Möglichkeiten. Nutz die Zeit zum Netzwerken (falls möglich). Genieße die Zeit und deine Aufwandspauschale. :-)
[…] hat es gestern noch einmal schön ausformuliert. Ohne Menschen ist Fußball nur ein Sport. Die gegenseitige Rivalität lässt sich schwer zum Kontrahenten transportieren, wenn man nicht im […]