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Steven Skrzybski und die hart erarbeitete Kunst des improvisierten Tors

Als er 12 Jahre alt war, traf Steven Skrzybski im entscheidenden Spiel der Saison gegen Hertha BSC. Union hatte in dem Jahr jedes Spiel gewonnen – außer im Pokal. Sie dominierten den Wettbewerb. In der Liga thronten sie über allem, aber hier im D-Jugend-Finale kassierten sie zwei dämliche Tore, und 400 Zuschauer sahen zu, wie sie versuchten, nicht alle Vorschusslorbeeren wegzuwerfen. Der Ball landete auf Steven Skrzybskis rechten Fuß. Dort, wo er ihn am liebsten hat. Er sprintete los, driftete dabei etwas auf rechts ab, eine Eigenschaft, die er noch heute hat. Dann sah es so aus, als wäre der Winkel für einen Abschluss zu spitz geworden.

Illustration: Emily Sweetman

Für die parteiischen Anhänger war das ein willkommener Anlass zum Jubel, in einer Stadt, deren beide größten Klubs zu dem Zeitpunkt schon seit zwei Generationen kein Pflichtspiel mehr gegeneinander bestritten hatten. Aber sie waren ja noch Kinder, die Auswirkungen des Tors kaum spürbar. „Damals gab es keinen Druck“, sagt er jetzt mit einem Grinsen über beide Ohren, das so breit ist wie der Atlantik zwischen der europäischen und amerikanischen Küste. Damals war er bereits über die Hälfte seines Lebens bei Union. „Das war alles, was wir wussten, wir haben einfach nur … Fußball gespielt.“

Der Instinkt übernahm das Handeln. Er schoss ohne nachzudenken auf das Tor, an die Innenkante des langen Pfostens, hoch, hart und ehrlich. Und als der Ball das Tornetz ausbeulte, wurde der Schrei, den er ausstieß in den friedlichen Himmel über dem bürgerlichen Lichterfelde, bald erstickt vom Jubel der 200 Eltern und Anhänger, die die rote Stadthälfte unterstützten.

„Es gibt Dinge, die du nie vergisst“, sagt er, obwohl er genau so weiß (und zwar mehr als die meisten), dass man jedes Tor so genießen muss, als sei es das letzte. Er feierte den Treffer mit seinen Teamkameraden Boné Uaferro, Kilian Pruschke, Oli Hofmann, Lukas Rehbein, Robin Huth und Tom Trybull und all den anderen, die dabei waren. Union würde das Spiel gewinnen und die Spieler nahtlos in die nächste Altersklasse aufsteigen. Von der D-Jugend bis hoch zur A-Jugend. Aus kleinen Kindern werden junge Männer. Sie blieben fast alle zusammen und lernten, ohne Druck und Erwartungen Fußball zu spielen. „Das ist vielleicht der Grund, warum ich versuche, mich an diese Zeit zurück zu erinnern. Als es einfach nur Spaß war und niemand darüber nachdachte, wie viel Geld er verdienen könnte oder über Zuschauer oder so.“

Die Spieler dieser Mannschaft, die in der Saison 2004/05 jeden Gegner besiegte, der sich ihr zu nähern wagte, sehen sich heute nicht mehr so oft. Ihr Leben hat sich in verschiedene Richtungen entwickelt. Das wäre trauriger, wenn es im Fußball nicht so häufig wäre.

Steven Skrzybski war „fußballverrückt“, wie der damalige Keeper Kilian Pruschke heute sagt. Es war alles, worüber er nachdachte, worüber er sprach und was er tat. Er war auch nett, ruhig und gut erzogen und damit absolut untauglich für Geschichten über die Tücken und Verlockungen einer Jugend in Berlin. In einem Interview, das 2013 im Stadionheft für das Spiel gegen Karlsruhe noch einmal gedruckt wurde, erzählte er, wie er immer noch seiner Familie in der Bäckerei in Mahlsdorf aushalf, wenn Not am Mann war. „Weil es ein Familienbetrieb ist. Ich würde dort auch abwaschen, wenn es nötig ist.“

Jetzt, im November 2016, steht er an der Spitze der Pyramide. Seine früheren Teamkameraden haben ihn auf den Entwicklungsstufen dorthin verlassen. Seine 5 Tore in dieser Spielzeit bedeuten, dass er fast in fast jedem zweiten Match getroffen hat. Kein Vergleich zu den 7 Toren, die sich zuvor auf 5 Saisons verteilten. Sein schelmischer Lupfer über den Kopf seines früheren Mannschaftskameraden Daniel Haas in der Partie gegen Aue war eine Freude, eine freundliche Verarschung, eine Kombination von clever und smart. Der Ausgleich aus 22 Metern im kochenden Kessel des Westfalenstadions im Pokal gegen Borussia Dortmund war einfach umwerfend. Er war kaum eine Minute auf dem Feld, als er zum ersten Mal seinen rechten Fuß schwang und den Ball durch den Strafraum ins lange Eck drosch, dem Spiel eine Wendung gebend und beinahe Geschichte schreibend.

All das passierte aber nicht durch Zufall. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sich Steven Skrybski beim 2:2 gegen Dresden bei Uwe Neuhaus, seinem früheren, empfindlichen und schwierigen Boss bedankte. Bei demjenigen, der ihn erstmals in die Profimannschaft holte. Er bedankte sich für alles, was Neuhaus für ihn getan hat. Neuhaus lachte. Er wusste, dass er nicht viel getan hatte. Er hatte nur das gemacht, was jeder andere Trainer an seiner Stelle auch getan hätte. Denn er hatte diesen Funken der Verzweiflung in den Augen gesehen, die Notwendigkeit, es zu schaffen und den Willen, es durchzustehen, was auch immer dafür notwendig wäre. Jeder Trainer auf der Welt hätte gerne solch talentierte Spieler. Aber noch lieber haben sie Spieler, die so zielgerichtet und leidenschaftlich sind. Steven Skrzybski würde durch Mauern rennen, wenn das bedeutet, dass er am Wochenende spielen darf.

Aus dieser D-Jugend war Tom Trybull zweifellos technisch versierter als Skrzybski, Kilian Pruschke war überragend im Tor und David Hollwitz war bei weitem stärker. Er würde in der U23 auf Christopher Quiring und Eroll Zejnullahu treffen, die jeweils schneller oder trickreicher waren. Und jeder, wirklich jeder wusste, dass Boné Uaferro der beste Fußballer werden würde, den die Stadt seit Thomas Häßler hervorgebracht hatte.

Trotzdem hat er alle hinter sich gelassen.

Steven Skrzybski 2011, Foto: Stefanie Fiebrig

„Ich hatte ein wenig Glück. Das stimmt. Aber als Kind musste ich Dinge ignorieren oder ablehnen. Besonders als ich 15, 16, 17 und 18 war. Es ist das Übliche. Es gab Partys. Für manche war Alkohol der ausschlaggebende Faktor. Für andere das Rauchen.“ Es war Berlin, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Mauerfall. Es brauchte Willenskraft, Stärke und Charakter. „Ich wusste in der D-Jugend, dass ich Fußballprofi werden will. Deshalb schlug ich all das aus. In dem Wissen, dass ich später nie sagen wollte: Deshalb habe ich es nicht geschafft.“

Kilian Pruschke erzählt die Geschichte weiter: „Technisch war er relativ gut, aber die Frage war immer, ob er es körperlich packt.“ Steven Skrzybski war winzig, aber er war nicht Lionel Messi oder Icke Häßler. „Er machte immer noch etwas extra nach dem Training. An den Gewichten oder so. Und so verdiente er sich das Vertrauen der Trainer. Sie glaubten immer an ihn.“ André Hofschneider war besonders wichtig. Der Co-Trainer war plötzlich für den letzten Teil der vergangenen Saison Cheftrainer geworden. Skrzybski wollte ihm etwas zurückgeben. Hofschneider hatte von Tag eins an so viel für ihn getan. Er war es, der Neuhaus davon überzeugte, Skrzybski eine Chance zu geben.

Mir wurde mal erzählt, dass die gestandenen Spieler ihn „Split-Screen“ nannten (was sich so ähnlich wie Skrzybski anhört), als er zu ihnen kam. Das mag wahr sein oder nicht. Aber es ist gewöhnlich ein Zeichen von Respekt, wenn die großen Jungs dich so weit wahrgenommen haben, dass sie dich verarschen. Torsten Mattuschka war die dominante Figur in der Kabine vor und nach dem Umbau des Stadions. Er war das Alpha-Tier, der König des Containers und er nahm ihn auch auf: „Manchmal wirst du ungeduldig. Du willst die ganze Welt bereisen und ein Shooting Star sein … Und du denkst, du seist der beste, aber du siehst auch die anderen spielen. Ich hatte Glück, dass ich gut von den anderen im Team unterstützt wurde. Ich zeigte ihnen gegenüber Respekt und sie kümmerten sich um mich.“ Tusche, und besonders der Mann, den Skrzybski immer noch als „Legende“ beschreibt, Karim Benyamina, nahmen ihn unter ihre Fittiche.

2. Bundesliga, Fußball, Saison 2010/11, 1. FC Union Berlin - Rot-Weiß Oberhausen, Schlussjubel Union, v. l. Patrick Kohlmann, Steven Skrzybski, Karim Benyamina, Christopher Quiring, 07.11. 2010, Foto: Matthias Koch
Patrick Kohlmann, Steven Skrzybski, Karim Benyamina und Christopher Quiring (v.l.) am 07.11. 2010, Foto: Matze Koch

Pruschke glaubt, dass Steven Skrzybski wegen seiner Arbeitsethik vorangekommen sei in dieser beschissenen Zeit, als er ständig zwischen der Profimannschaft und der U23 pendelte. In den Spielzeiten 2012/13 und 2013/14 spielte er 27 Mal in der Regionalliga Nordost und 22 Mal in der Zweiten Liga. Es muss verwirrend gewesen sein, nicht zu wissen, wohin er gehörte. Ständig zu glauben, jetzt hätte er endgültig den Durchbruch geschafft, nur um dann wieder einen Rückschlag zu erleiden. Statt seinen Namen im Stadion an der Alten Försterei zu hören, wo er an der Waldseite selbst mal Balljunge war, trat er dan im Jahnsportpark oder im Zoschke-Stadion an. Und statt eine Chance im ersten Derby gegen Hertha zu bekommen, musste er gegen den BAK oder Viktoria spielen.

Sein Debüt bei den Profis fand statt, als Uwe Neuhaus ihn in der 83. Minute einer lähmenden und wahrscheinlich auch enttäuschenden 1:2-Niederlage gegen den FSV Frankfurt brachte. Es war der 13. November 2010. Er traf nicht einmal bis zur 55. Minute des 2:1-Siegs gegen den VfL Bochum am 19. Mai 2013. Es war der letzte Spieltag der Saison. Auf sein erstes Tor im Stadion an der Alten Försterei musste er noch länger warten. Bis zum 7. Dezember 2014.

Es war 1.473 Tage nach seinem Heimdebüt.

Viele haben sich gefragt, ob er wirklich gut genug ist. Ich tat es, und ich habe keine Ahnung, wie er damit zurechtgekommen ist. Wie er immer weiter zum Training gehen konnte. Wie er das Lächeln behalten konnte, dass immer auf seinem Gesicht zu sehen ist. Wie er immer den Kippen und dem Alkohol widerstehen konnte, all den Verlockungen von Berlin. Pruschke weiß es auch nicht. „Er hat einfach hart weiter gearbeitet“, ist alles, was er dazu sagen kann. Skrzybskis Antwort ist fast die gleiche. Obwohl er die 08/15-Einschränkung hinzufügt, dass Tore schießen nicht alles sei, wenn er auch mithelfen würde, Tore für andere vorzubereiten. „Ja, natürlich habe ich auch ein Ego, alle Stürmer haben eins. Aber so lange das Team gut spielt, ist es egal, wer die Tore schießt …“

Dieses Ego muss er ziemlich gut versteckt haben. Denn zu sehen, was mit seinem Teamkameraden Christopher Quiring passierte, muss ihm so wehgetan haben, wie der erste tiefe Atemzug an einem Wintermorgen in der Regionalliga.

Christopher Quiring, der nicht weit von der Bäckerei von Skrzybskis Eltern in Mahlsdorf, in Marzahn-Hellersdorf aufgewachsen ist, wurde sehr schnell der Nachwuchs-Star. Er war der großmäulige kleine Außenstürmer, dem die Welt offen stand. Derjenige, der live im Fernsehen sagte, dass er kotzen könne, all die Hertha-Wessis in seinem Stadion feiern zu sehen. Derjenige, der ein Wuhlesyndikat-Tattoo trägt. Quiring kam 2010/11 ins Team und es gab Gerüchte, dass große Klubs ihn beobachten würden. Und Skrzybski musste ihn auch beobachten, während er mal bei den Profis und mal bei der U23 trainierte und zwischen den Ligen hin und her pendelte. Nur seine Trainer, seine Familie und seine Teamkameraden trieben ihn in der Zeit an.

Steven Skrzybski ärgert sich über eine vergebene Torchance gegen den FSV Frankfurt am 31.03. 2013, Foto: Matze Koch

Quiring ist in vielerlei Hinsicht das Opfer seines frühen Erfolges. Er wurde von so vielen Fans als Hoffnungsträger und Teil des Klubs angesehen, dass niemand seine Schwachstellen beachtete, wie sie es bei Steven Skrzybski taten. Quiring musste lernen, sich seinen Weg ins Team zurück zu kämpfen, während ihm alle von außen sagten, dass er ein unverzichtbarer Bestandteil der Mannschaft sei. Skrzybski sagt, dass er immer für Quiring da sein werde. So wie Quiring für ihn da war, als er am Rande stand. Genau so wie er für Eroll da wäre, der gerade einen ähnlichen Kampf durchlebt. Weil sie ihr Spiel in- und auswendig kennen. Sie lieben es, zusammen zu spielen, weil sie immer wissen, wo der andere sein wird.

An irgendeinem Punkt zwei Jahre später, in einer Partie zwischen Unions U23 und Babelsberg, schrieb ich in mein Notizbuch: Eroll passt zu Stevie, der zurück zu Eroll passt. Das Spiel ist erst 3 Minuten alt. Sie genießen es, in der späten Herbstsonne draußen zu sein. Stevie schießt. Obwohl der Ball weit vorbei geht, ist er doch viel zu gut für diese Liga.

Und ja, Steven Skrzybski war immer zu gut für die 4. Liga. Aber die Frage war: Ist er gut genug für die Zweite Liga? Vielleicht war er nicht schnell genug, oder vielleicht war seine Ballannahme nicht gut genug oder er war nicht treffsicher genug. Seine Schüsse schienen zu oft zu weit am Tor vorbeizugehen. Ein paar Wochen später traf er fünf Mal gegen Germania Halberstadt. Aber das wurde schnell zurückgewiesen. Denn schließlich war es nur Germania Halberstadt. Er war ziemlich schmächtig damals. Er hatte einen unentschlossenen Haarschnitt und eine merkwürdige Körperhaltung, so wie jeder ungelenke Teenager.

Aber jetzt kämpfen Chrissie und Eroll um ihre Position in der ersten Mannschaft. Ihr erstes Aufblitzen hat etwas an Glanz verloren in den letzten Spielzeiten. Und Skrzybski fliegt. Weg ist der schmächtige, etwas picklige Teenager mit den ausgefransten Haaren. Er zeigt jetzt sein Gesicht. Es sieht aus, als hätte er etwas an Größe hinzugewonnen. Aber das kann auch einfach vom gerade durchgedrückten Rücken, den breiteren Schultern und der sicheren Position im Team kommen.

Fussball, Herren, DFB-Pokal, Saison 2016/2017 (1. Runde), MSV Duisburg - 1. FC Union Berlin 1:2 n.V., Christopher Quiring (1. FC Union), Steven Skrzybski (Union), Jubel nach Tor zum 1:2, 21.08. 2016, Foto: Matthias Koch
Christopher Quiring und Steven Skrzybski (als Kapitän); Foto: Matze Koch

Zu Saisonbeginn sagte Trainer Jens Keller über Steven Skrzybski, dass dieser nicht länger als Talent betrachtet werden könne. Er sei ein Spieler geworden. Er ist ein integraler Bestandteil von Union geworden und mit dem guten Start in die Saison auch der erste Name, der damit verbunden wird.

Steven Skrzybski wird trotzdem Chancen vergeben, wie es Karim Benyamina nie getan hat. Denn er ist am besten vor dem Tor, wenn er improvisieren muss. So wie er es gegen Hertha machen musste, als er 12 Jahre alt war. Oder wie er es gut zehn Jahre später gegen Dortmund getan hat.

Uli Hesse ist der Autor von „Tor“, der ultimativen Geschichte des deutschen Fußballs, hat unzählige andere Bücher und Kolumnen geschrieben. Er kennt sein Metier. Er ist Dortmund-Fan, glaubt aber, dass Union das Spiel am Ende hätte gewinnen müssen. Und er würde so weit gehen, es Skrzybski anzulasten, dass dieser seine letzte Chance nicht wahrgenommen hat. „Er hatte das leere Tor vor sich“, sagt er, „dann entscheidet er sich, den Ball querzulegen und timed den Pass nicht richtig.“

Hesse ist nicht der einzige, der meint, Skrzybski müsse mehr treffen. Im Heimspiel gegen St. Pauli, eine Partie, in der Skrzybski alle Facetten seines Spiels zeigte, stand er eins gegen eins gegen Robin Himmelmann. Aber erneut verzog er den Schuss.

Fussball, Herren, Saison 2016/17, 2. Bundesliga, 1. FC Union Berlin, Training, v. l. Collin Quaner (1. FC Union Berlin), Steven Skrzybski (Union) im Interview, 11.09. 2016, Foto: Matthias Koch
Collin Quaner und Steven Skrzybski im Medien-Gespräch am 11.09. 2016, Foto: Matze Koch

Skrzybski muss seine Schwachpunkte aus dem Spiel heraus nehmen, aber ich frage mich, ob er das wirklich muss. Mal davon abgesehen, ob das überhaupt möglich ist. Er hat viele Stürmer kommen und gehen sehen. Und die meisten, relativ gesehen, scheitern bei Union. Und er hat versucht, daraus zu lernen. Aber wenn überhaupt jemand, dann hat er das Recht auf etwas Spielraum.

Es gab Silvio, der in der Luft stehen konnte wie Superman. Oder John Jairo Mosquera, der mit dem Ball getanzt hat, wenn er konnte. Der wunderbare Santi Kolk, der sich über das Feld treiben lassen konnte und dann zugeschnappt hat wie ein langhaariger Engel, der auf der Party mit deiner Freundin abhaut, noch bevor es Mitternacht ist. Adam Nemec war brutal gut in der Luft und für einen bulligen Mittelstürmer seiner Größe überraschend elegant am Boden. Und Simon Terodde konnte all das auf sich vereinen in den wenigen Momenten, in denen für ihn alles stimmte.

Sie alle konnten einen Moment des Zaubers heraufbeschwören (wenn der Herrgott gnädig war und die Wuhle nicht über die Ufer trat). Das war Silvios Meisterstück gegen Ingolstadt beispielsweise. Oder Mosqueras Volleyschuss gegen Hertha im Olympiastadion.

Aber sie hatten nie die Anmut, wenn ihnen gerade ein Schuss weit neben das Tor gegangen ist. Keiner von ihnen.

Karim Benyamina war da ein anderes Kaliber. Er war ausgefuchst, er war schnell und er täuschte an. Er hatte ein perfektes Timing und war so unscheinbar, dass er vom Radar der gegnerischen Abwehr nicht wahrgenommen wurde. Er traf spektakulär und einfach, und es war ihm egal wie er traf. Man wusste nur, dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein würde. Benyamina und dann noch Sebastian Polter und Bobby Wood sind die einzigen echten Erfolgsgeschichten, die Skrzybski während seiner Zeit bei Union gesehen hat. Und zwei dieser drei Spieler waren jeweils nur eine Saison da.

„Ich habe von jedem etwas gelernt. Ich habe versucht, mir von allen etwas abzuschauen“, sagt er. Aber er ist immer dann am besten, wenn er sich auf seinen Instinkt verlässt. Deshalb müssen wir es akzeptieren, wenn er Chancen liegen lässt. Er ist kein klassischer Torjäger. Er macht zu viele andere Sachen wie die Außenbahnen wechseln oder in die Mitte zu stoßen, um seinen Brüdern dort zu helfen, ihnen Zeit zu geben zum Luft holen in der Hitze des Gefechts.

Fussball, Herren, Saison 2016/17, 2. Bundesliga, 1. FC Union Berlin, Training, Steven Skrzybski (Union) schaut sich noch einmal die Szene im Video an, die zum Tor zum 2:1 im DFB-Pokalspiel beim MSV Duisburg (2:1 n. V.) f¸hrte, 22.08. 2016, Foto: Matthias Koch
Steven Skrzybski im Medienraum, Foto: Matze Koch

Und dann treibt er an den richtigen Ort zur richtigen Zeit, und wenn alles gut läuft, ist der Ball auch dort.

„Wenn ich keine Zeit zum Nachdenken habe, dann ist es am besten. Wenn alles plötzlich still ist, du keinen Trainer hörst und keine Zuschauer. Und du hörst gar nichts, bis zu dem Moment, in dem der Ball ein Geräusch macht und du weißt, ob er drin ist oder nicht. Ich kann das nicht erklären, und andere werden das nicht verstehen. Es ist unglaublich.“

In der chinesischen Philosophie ist das der Zustand des „Wu-Wei“ (wörtlich übersetzt des „nicht Probierens“). Es ist Klarheit nötig, um improvisieren zu können. Aber um diesen Zustand der Klarheit erreichen zu können, muss man seine Fähigkeiten und Stärken über viele Jahre harter und gewissenhafter Arbeit hinweg verbessern. Es braucht Zeit und Übung, um in der Lage zu sein, magische Momente zu erschaffen, ohne Zeit dafür zu haben.

Später ignoriert er geflissentlich den Kommentar, ein Tor zu schießen sei nur mit guten Drogen oder noch besser mit Sex zu vergleichen (er hat nie den honigsüßen Geschmack einer Zigarette gekostet und seine Mutter hat ihn viel zu gut erzogen, als dass er einfach so in der Öffentlichkeit über Sex reden würde). Aber er wird geradezu lyrisch, wenn es um die Steigerung der Gefühle geht, die mit der einfachen und kunstvollen Art einhergehen, den Ball im Tor zu versenken. „Es macht, dass du dich drei Meter groß fühlst“, sagt er. „Es kann machen, dass du dich unverletzlich fühlst. Nichts ist damit zu vergleichen. In diesem Moment kannst du rennen wie ein Leopard, du kannst drei Meter hoch springen, du kannst alles.“

Sein Haar sträubt sich wie bei einer Katze, sein Lächeln breitet sich über sein gesamtes Gesicht aus und er hängt noch einmal einen Moment lang diesem Gefühl nach. Genau wie vor 12 Jahren gegen Hertha. Es gibt Dinge, die sich niemals ändern werden.

Diese Geschichte von Jacob Sweetman erschien zuerst auf Englisch.


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4 Kommentare zu “Steven Skrzybski und die hart erarbeitete Kunst des improvisierten Tors

  1. …. besser kann man Stevie nicht beschreiben. Es ist unfassbar, wie er sich entwickelt hat!

    PS: genau wegen solcher Artikel sehe so gern bei textilvergehen vorbei:-),ihr solltet mal hinter dem Spenden-Button eine PayPal Alternative auflisten…!

  2. […] Ich war so dermaßen bei den Zweikämpfen mitgegangen, dass ich nicht eine Sekunde über taktische Aufstellung oder andere Dinge nachgedacht habe. Dafür konnte ich mich an der Zweikampfführung von Toni Leistner und Roberto Puncec nicht sattsehen. Wie Steven Skrzybski die Stadionregie übernommen hat, indem er genau das gemacht, worüber Jacob erst geschrieben hat: Die Kunst des improvisierten Tors […]

  3. […] die Illustration von Emily Sweetman im Text über Steven Skrzybski so gut ankam, haben wir mal dafür gesorgt, dass ihr die auch auf Tassen oder Shirts haben […]

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