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Entspannter Aufgalopp im leuchtenden Leutzsch

Wir befinden uns im Jahr 2024 n.Chr. Ganz Fußball-Deutschland diskutiert, wie sich herausstellen sollte, noch Tage danach über ein vermeintliches Handspiel… Ganz Fußball-Deutschland? Nein! Einige hundert rot-weiß gekleidete Menschen befinden sich an einem Samstagmorgen in einer Regionalbahn nach Wittenberg.

Wer ohne Vorwissen bzw. -warnung in diese eingestiegen ist, könnte sich über die vielen reisefreudigen Unionerinnen und Unioner gewundert haben. Gerade ist doch Europameisterschaft und keine Bundesliga. Die bereits nach wenigen Minuten vergriffenen Karten für den Gästeblock offenbarten neben den etlichen Reisenden, dass die Männermannschaft des 1. FC Union Berlins im ersten Testspiel für die kommende Spielzeit nicht auf einen x-beliebigen Regionalligsten, sondern auf einen ziemlich attraktiven Gegner traf.

Chemie Leipzig lud als Gastgeber anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Abstiegsrelegation ein. 1984 hatte Chemie Union in Hin-und Rückspiel besiegt, nachdem Union durch einen Sieg im Georg-Schwarz-Sportpark (heute: Alfred-Kunze-Sportpark) am letzten Spieltag der DDR-Oberligasaison die Relegation erzwungen hatte und damit für ein Novum im DDR-Fußball sorgte. Erstmalig gab es Entscheidungsspiele um den Verbleib in der Ersten Liga.

Ein kleiner Reisebericht

Nachdem die letzten Monate für mich persönlich aus unterschiedlichen Gründen nicht allzu viel Union enthielten, freute ich mich sehr auf dieses Auswärtsspiel. Nicht unbedingt wegen des sportlichen Wettkampfs der bei einem Testspiel zwischen einem Bundesligisten und einem Viertligisten naturgemäß sowieso nicht im Mittelpunkt steht, sondern vor allem auf das Drumherum, darauf die Stimmung im Alfred-Kunze-Sportpark mit Freunden aus Leipzig zu erleben.

Mit jedem Kilometer in der Regionalbahn, mit jedem Schritt in Richtung Stadion wuchs dabei nicht nur die Vorfreude sondern auch das Gefühl, dass ich mich hier gerade auf einer Reise in die manchmal sicherlich nostalgisch verklärte Vergangenheit von Union befand. Mit einer Reihe interessanter Anekdoten im Gepäck, die durch die Begegnung mit einem sympathischen Union-Fan, der als Pfarrer arbeitet und schon etliche Male Union in seinen Predigten erwähnte, erreichte ich schließlich den Leipziger Hauptbahnhof. Dort wurde ich glücklicherweise im Gegensatz zu anderen Union-Anhängern nicht von der Staatsmacht empfangen.

In nun fast sengender Hitze ging es vom Bahnhof per Fahrrad durch grüne Parks vorbei an der unbeliebten Gegenwart, der Spielstätte des Nicht-Vereins aus Leipzig, tiefer in die Vergangenheit. Im Rahmen des 40-jährigen Jubiläums der von Chemie als „Jahrhundertspiele gegen die die Seelenverwandten aus Berlin“ deklarierten Abstiegsrelegation, fand eine Podiumsdiskussion auf der Haupttribüne des AKS statt, an der zahlreiche Chemie-Fans genau wie einige Union-Anhänger teilnahmen.

Noch während der Podiumsdiskussion finden letzte Vorbereitungen für das anschließende Testspiel statt, Foto: eigene Aufnahme

Einige Ex-Spieler der beiden Mannschaften von 1984 waren ebenfalls vor Ort und gaben teilweise interessante und launische Einblicke. So schwankten die Einschätzungen bzgl. der Zuschauer*innen-Zahlen zwischen „so viele wie angegeben“ und mehrere tausend Menschen mehr als offiziell Karten verkauft wurden. Und das in beiden Stadien, die beide als eine der wenigen in der DDR reine Fußball-Arenen waren.

Fan-Erinnerungen an die Abstiegsrelegation 1984, Foto: eigene Aufnahme

Fans, die damals dabei waren, berichteten von Trabi-Motorschaden und einer Weiterreise von Dessau nach Berlin mit dem Taxi oder, dass mal wieder der Krankenschein bemüht werden musste, um unter der Woche nach Ost-Berlin zu kommen. Da die Entscheidungsspiele zum Oberliga-Verbleib sehr kurzfristig terminiert wurden, hatte selbst ein Erstliga-Team wie die Betriebssportgemeinschaft Chemie Leipzig Probleme eine Unterkunft im Berliner Osten zu finden. Insgesamt erinnerten sich alle Beteiligten insbesondere an die besondere Atmosphäre, welche sowohl beim Hinspiel in der Alten Försterei (Endstand 1:1 vor offiziell 22.000 Menschen) als auch beim Rückspiel im Georg-Schwarz-Sportpark (Endstand 2:1, ebenfalls vor offiziell 22.000) herrschte.

Während der Union-Torwart von damals, Jörn Dahms, froh war, „dass 40 Jahre und nicht nur zwei Wochen“ zwischen der Einladung zum Feiern der insgesamt drei Spiele lagen, waren sich eigentlich alle Zeitzeugen einig: „Es fühlt sich (heute ein) bisschen wie ein Klassentreffen an.“

Abgerundet wurde dieser Eindruck dann noch durch einen Appell, den ein Zuschauer der Podiumsdiskussion an alle Anwesenden richtete:

„Wir werden immer wieder Spiele verlieren, wir als Chemiker, wir als Unioner. Behaltet eure Kultur, eure besondere Fankultur.“

Danach war noch genügend Zeit um sich ein bisschen im Alfred-Kunze-Sportpark umzuschauen, bevor das Testspiel zwischen den aktuellen Mannschaften um 15:30 Uhr angepfiffen werden sollte.

Charmanter Sanitärbereich, Foto: eigene Aufnahme

Als ich dann um wahrscheinlich kurz vor drei den sogenannten Norddamm und damit die Tribüne hinter dem „falschen“ Union-Tor betrat, war da wieder eine Parallele. Die teilweise unebenen und nicht-überdachten Steinstufen erinnern schon stark an die unsanierte Alte Försterei und den großen Charme, die das Ballhaus des Ostens versprühte. Allerdings sollte im Verlauf der Partie noch klar werden, dass so ein Dach schon einige Vorteile hat. Gerade bei sinnflutartigen Wassermengen in Folge mehrerer Gewitterwolken.

Ein prappelvoller Union-Gästeblock, Foto: Matze Koch

Der guten Stimmung auf beiden Seiten konnte das von sehr heiß zu sehr nass schwankende Wetter allerdings nichts anhaben. Sowohl Union als auch Chemie-Fans hatten einiges an Leuchtutensilien dabei, sodass Leutzsch an diesem Samstagnachmittag, beim Treffen zweier besonderer Fankurven, häufig bunt eingefärbt wurde.

Keine Gewitterwolken aus dem Union-Block, Foto: Matze Koch

Da es im Anschluss an den Testkick teilweise noch zum entspannten Austausch zwischen beiden Fanlagern kam, kann von einem rundum gelungenen Fußball-Nachmittag mit ein bisschen Nostalgie gesprochen werden.

Zum Sportlichen

Zur guten Laune aus Union-Sicht trug zudem das Geschehen auf dem Rasen bei. Zwar lässt sich aus dem lockeren Aufgalopp im ersten Spiel unter der Leitung von Neu-Uniontrainer Bo Svensson noch nichts für die im August beginnende Pflichtspiel-Saison ableiten.

Die neue sportliche Leitung beobachtet die Vorbereitung, Foto: Matze Koch

Ein souveräner und entspannter 4:0-Sieg (Highlights bei AFTV) bei dem mit Ivan Prtajin ein Neuzugang traf und die noch sehr jungen David Preu und Oluwaseun Ogbemudia aus meiner Sicht jeweils eine gute Partie spielten, ist für den Start der Vorbereitung aber denoch ein guter Anfang.

Da gibts was auf die Ohren

Warum Unions überraschender Erfolg nur in Teilen eine Blaupause für andere Vereine sein kann und wie die Entwicklung der letzten Jahre Einfluss auf Unions Identität hatte, erklärt der Journalist Till Oppermann im Gespräch mit dem Chemie-Podcast Chemisches Element.


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4 Kommentare zu “Entspannter Aufgalopp im leuchtenden Leutzsch

  1. Jürgen Hofmann

    Ich bin auch ein Union Fan, der als Pfarrer arbeitet, und der den Fußball und speziell Union in meinen Predigten öfter erwähnt.
    Kann sich der im Beitrag erwähnte Kollege vielleicht bitte bei mir melden?

  2. Ich war auch da. Im Rolli an der Seitenlinie. Es war genial. Ein Erlebnis fürs Herz. Kann Euch nur zustimmen, möchte aber anfügen, dass Friedrich und Rodtnick eine super Partie geliefert haben.

  3. Der Sepp

    Die Aussage, dass Union gegen Chemie zum ersten Mal Ausscheidungsspiele um den Verbleib in der Oberliga austrugen, ist nicht korrekt.

    Bereits 1950 mussten die ZSG Altenburg sowie die ZSG Anker Wismar ein Entscheidungsspiel austragen.
    (https://de.wikipedia.org/wiki/DDR-Fu%C3%9Fball-Oberliga_1949%2F50)

  4. Maria Draghi

    Ja, ein sehr schöner Nachmittag. Für mich, der noch nie ein Spiel bei RoteBrause besucht hat (und auch nie wird) ein besonderes Erlebnis, das Stadion mit den schiefen Stufen (so wie AF früher, und immer noch so wie bei meinem ersten Besuch dort ca. 1987) wieder zu sehen; inzwischen ist der S-Bahnhof woanders und die damals noch grüne Wiese zum ehemaligen Bahnhof ist meterhoch mit Bäumen bewachsen. Das war mir eine 400 Kilometer-Anreise sehr wert.

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