Blog State of the Union

Stadtmeister: Glück und Zufriedenheit lassen sich nicht in Lautstärke messen

Was denn solch ein Derby am ersten Spieltag bedeuten würde, wurden beide Trainer nach dem 3:1 des 1. FC Union gegen Hertha BSC auf der Pressekonferenz (AFTV) gefragt. Urs Fischer gab eine typische Urs-Fischer-Antwort, die jede Person in ihrer Funktion als Trainer wohl exakt so auch gegeben hätte: „Mir geht es vor allem um die 3 Punkte.“ Wer aber wirklich eine Antwort gesucht auf die Frage, hätte nur rausgehen müssen. In den Stadionumlauf. Vor das Stadion, wo es das erste Bier mit Alkohol gab. Oder zur Abseitsfalle. Zur Tanke. Zum Hauptmann. Überall war Glück und Freude in den Gesichtern. Niemand wollte nach Hause. Außer denen, die sonst davon singen, nicht nach Hause zu gehen.

Es war schon ein merkwürdiges Derby. Denn gut eine dreiviertel Stunde vor Anpfiff kickte bei mir die Nervosität rein. Ich wollte mit niemandem mehr sprechen. Denn die Ungewissheit über das, was kommen wird, kam über mich. Und die wilde Anfangsphase konnte mich nicht beruhigen. Denn so große Chancen vergeben, das rächt sich doch. Wir wissen das. Spätestens als Julian Ryerson Herthas Keeper fliegen ließ, der aber noch den Ball erwischte, dachte ich, dass uns das noch auf die Füße fallen würde.

Doch dann: Becker auf Jordan. Tor. Aber trotzdem, zur zweiten Halbzeit, da wird Hertha wütend aus der Kabine kommen. Denn Ryerson hatte doch vor der Pause das 2:0 auf dem Fuß. Wieso hat er das nicht gemacht? Doch keine wütende Hertha, sondern ein entschlossenes Union-Team. Traumpass Haberer. Becker. Tor. Und dann Ecke Trimmel, Kopfball Knoche. Kein Jubel wegen Videobeweis. Tor.

Dann war alles weg. Die Nervosität und alle Ungewissheit, die ein erster Spieltag so mit sich bringt. Und ich konnte das machen, von dem viele reden, die Fußball nur aus dem Fernsehen kennen und vor allem sich nicht in das Spiel verliebt haben. Ich konnte die Partie genießen. Plötzlich war das Derby für mich wie ein Treffen mit Freunden auf dem Balkon an einem schönen, nicht allzu heißen Sommertag. Ich konnte meinen Kindern zuschauen, wie sie die Hände in die Luft rissen, wenn Ali das sagte. Ich konnte die Schilder auf der alten Anzeigetafel betrachten.

So ehrlich muss man sein: Das Derby war nach einer Stunde vorbei. Mit der Gewissheit bei uns, war auf der anderen Seite jegliche Hoffnung fahren gelassen worden. Da konnte Ali noch so sehr anpeitschen und anfeuern. Diese Dominanz von Union nahm dem Derby die Hitze, die Wut, die jeden Schlachtruf und Gesang noch lauter schallen lässt. Weil unsere Stimmen das einzige sind, das während des Spiels auf den Platz darf. Entspannung, Gelassenheit und Glück lassen sich aber nicht schreien.

Aber vielleicht zu einigen kleinen sportlichen Themen, auch wenn die in einer Derby-Nachbetrachtung selten Platz finden. Eine Konsequenz aus der vergangenen Saison war, jenseits von reinen Kaderfragen, dass Union wieder gefährlicher nach Standards werden müsse.

Denn das war mir auch erst nach der Spielzeit aufgefallen: Das Team von Urs Fischer hatte kein einziges Tor nach Ecke erzielt. Deshalb hat mich schon gefreut, dass im Pokal eins gefallen ist. Und nun im Derby wieder eins. Und zwar von Robin Knoche, der neben seiner Funktion als Abwehrorganisator und Spielauslöser eigentlich auch gefährlich bei Kopfbällen ist. Doch für Union traf er in der Bundesliga vorher erst einmal. Vor eineinhalb Jahren. Damals gegen Gladbach ein Kopfball nach einem Freistoß.

Unioner des Spiels

Falls es eine Auszeichnung für einen „Unioner des Spiels“ geben würde, dann sollte die ohne Zweifel Julian Ryerson bekommen. Denn wir fragten uns vor dem Spiel, ob Niko Gießelmann vielleicht angeschlagen sei. Das dahinter eine andere Idee steckte, verriet Urs Fischers Reaktion nach dem Spiel. Auf der Pressekonferenz ließ der Trainer durchblicken, dass er Dodi Lukebakio jemanden entgegenstellen wollte, der das Tempo mitgehen kann.

Denn die Stärke des Angreifers besteht vor allem darin, seine Geschwindigkeit auszuspielen, wenn er viel grüne Wiese vor sich hat. Das hat Ryerson auf teilweise sehr kompromisslose Art und Weise im solidarischen Zusammenspiel mit seinen Mitspielern erledigt. Gleichzeitig sorgte er mit vielen Chancen vorne auch für Gefahr. Schade, dass er verletzt raus musste. Ich hoffe, dass es ihn an der Wade nicht zu stark erwischt hat.

Keinen Stich: Das letzte was Dodi Lukebakio in einem Zweikampf mit Julian Ryerson sieht, Foto: Sebastian Räppold / Matthias Koch

Ich könnte auch darüber sprechen, wie gut Sheraldo Becker und Jordan teilweise schon harmoniert haben. Oder darüber, dass Janik Haberer zumindest was die Aggressivität betrifft, mich echt an Robert Andrich erinnert. Ich mag die Flanken von Milos Pantovic. Aber ich merke auch, dass er und Jamie Leweling noch etwas Zeit benötigen, sich an das schnörkellose Union-Spiel zu gewöhnen. Ich hatte das Gefühl, sie würden den Ball zu lange am Fuß halten. Für Diogo Leite gilt dasselbe wie für Julian Ryerson. Job erledigt. Gut immer die Positionen mit Knoche getauscht.

Und Frederik Rönnow hat sich neben der Erfüllung der Grundaufgabe als Torwart auch gut ins Spiel integriert. Seine Beidfüßigkeit machte es den Hertha-Spielern schwer, ihn anzulaufen. Dazu war er neben Knoche und Leite die dritte Person im Spielaufbau und ermöglichte es Jaeckel, sich in solchen Momenten mehr nach vorne zu orientieren. Dazu kommt, dass die langen Bälle von Rönnow enorm präzise sind. Ich glaube, dass Union diese Fähigkeit noch einige Male helfen wird.

Das sind die Medienberichte zum Derby:

In einem Kommentar schreibt die Morgenpost+ im Prinzip komplett noch einmal die Argumentationslinie von Union-Präsident Dirk Zingler auf und spricht sich gegen weitere Derbys am ersten Spieltag aus. Da dies in der Bundesliga zuletzt 1965 vorkam, gehe ich davon aus, dass dies sowieso nicht so oft noch einmal passieren wird.

Das gute Gefühl

Der Kurier verspricht sich von diesem Sieg im Derby eine sorgenfreie Saison. Ich bin da nicht ganz dabei. Einfach weil die Liga einen insgesamt stärkeren Eindruck auf mich macht. Und auch, weil ich nicht davon ausgehe, dass wir von einem Spiel einen Eindruck für die restliche Saison bekommen. Union hat bisher noch kein Bundesliga-Auftaktspiel gewonnen und uns trotzdem immer viel Spaß gemacht.

Was ich aber schon glaube, und das dürfte auch die Ausgangsposition des Kommentars gewesen sein, dass dieser Derby-Sieg ein gutes Gefühl gibt. Ihr wisst schon, dieses Gefühl, das Christoph Biermann in seinem Buch Wir werden ewig leben einmal beschrieben hat. Dieses gute Gefühl, das sich immer wieder bestätigen muss. Diese Zuversicht und den Glauben, das man auf dem richtigen Weg ist. Dieses gute Gefühl, das sich ausbreitet und dem schlechten Gefühl, dem Zweifel, keinen Platz lässt.

Friedliches Derby

Vielleicht hat am ersten Spieltag jede Seite genug mit sich selbst zu tun. Vielleicht ist es der erste Spieltag an sich. Aber ich hatte ein insgesamt ausgelassenes und fröhliches Derby erlebt. Sowohl bei der Anreise als auch bei der Abreise. Okay, es ging ein Bild eines Kindes herum, das einen Herthaschal verbrennt. Ich brauche so etwas nicht. Aber so etwas verbuche ich noch unter Folklore. Jedenfalls wenn sich der Schal vorher im Fanshop gekauft wurde.

Aber ganz ehrlich: So kann Derby für mich bleiben. Ich brauche diese Anspannung nicht, ob ich oder meine Kinder sicher durch die Stadt kommen. Und ich mochte auch bei den Gesängen im Stadion, dass es nur um uns ging. Denn wir sind ja für Union da. Kann gerne so bleiben. Auch wenn mir sicher einige sagen werden, dass die Stimmung für ein Derby mau gewesen sei.

Es war übrigens noch ein früherer Wegbereiter des heutigen Union-Erfolges beim Derby im Stadion:

Und die Choreos waren wunderschön:

Auf den anderen Plätzen

Während das zweite Team der Union-Frauen ihren Test gegen den FC St. Pauli mit 3:1 gewonnen hat …

… hat die U19 der Männer den Test gegen Hertha BSC mit 0:2 verloren.

Und sonst so?

Beim SWR gibt es einen Beitrag über Timo Baumgartls Kampf gegen den Krebs. Ich bewundere ihn wirklich für seine Offenheit und Kraft. Ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde. Es gibt keine Worte, die meinen Respekt für ihn beschreiben können.

Wir haben hier im Blog öfter schon über das Projekt Trauer und Fußball berichtet. Carmen hat uns nun geschrieben und gefragt, ob wir ihren Aufruf zur Teilnahme an einer Umfrage nachkommen können. Das machen wir hier sehr gerne und würden uns freuen, wenn ihr daran teilnehmen würdet:

Hallo zusammen,

bereits seit vielen Jahren ist in der Fußball-Fankultur die Trauer um verstorbene Fans fest verankert. Bei Vereinen ist das meist anders: Während eine Trauerkultur nach dem Tod von bekannten Fußballerpersönlichkeiten in den Vereinen oft etabliert ist, ist dies nach dem Tod von Fans und Mitgliedern noch nicht so ausgeprägt. So haben Vereine zwar einzelne individuelle Angebote zur Trauerkultur nach dem Tod von Fans und Mitgliedern entwickelt, aber es gibt oft keine festgeschriebene transparente Struktur. Diese Lücke zu schließen ist ein zentrales Ziel des PFiFF-Projektes „Trauer unterm Flutlicht“.

Ein weiteres Ziel ist der Aufbau eines nachhaltigen Netzwerkes zum Thema. Mittlerweile ist ein offenes Netzwerk für Vereins- und Fanprojektmitarbeitenden entstanden, das sich regelmäßig einmal im Monat trifft. Dort gab es bereits wertvolle Inspirationen und Diskussionen, so dass als nächstes eine Bestandsaufnahme bestehender Traueraktivitäten in den Vereinen und Fanprojekten durchgeführt wird. Dazu haben wir zwei Fragebögen entwickelt, einen für Vereine / Fanprojekte, den anderen für Fans und Mitglieder. Die Dauer der Fragebögen beträgt ca. 5-6 Minuten.

Zum Fragebogen für Vereine und Fanprojekte

Zum Fragebogen für Fans und Mitglieder

Der Fragebogen ist ein wichtiger Bestandteil des Projekts, daher freuen wir uns über eure Teilnahme. Ebenso freuen wir uns, wenn ihr die Fragebögen auch über eure Verteiler und soziale Netzwerke weiterleitet. Die Fragebögen sind bis zum 12. August geöffnet.

Apropos wählen: Ihr könnt auch noch für die Unioner des Jahres abstimmen!


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7 Kommentare zu “Stadtmeister: Glück und Zufriedenheit lassen sich nicht in Lautstärke messen

  1. Herrlich dein letzter Satz :-) !
    Geil,einfach nur geil und wichtig für uns ,dieser Sieg!
    Was sagte der Freiburg Trainer
    C.Streich mal über Union,ich weiß nicht wie sie es machen,sie machen es einfach….Danke für diesen Sieg.
    Fühle einfach nur STOLZ!

  2. Wuhleblut

    „Niemand wollte nach Hause. Außer denen, die sonst davon singen, nicht nach Hause zu gehen“

    Von denen waren nach Abpfiff noch erstaunlich viele im Stadion. Hatte das was (Polizei-)taktisches?
    Oder wollten die einfach ins feiern sehen?

  3. Sehr gut das hervorgehoben wird, dass es ein friedliches und faires Derby auf und neben den Platz war.

    Wenn die Ansetzung zum BL-Auftakt dazu beigetragen hat, eine künstlich erzeugte Überhöhung der Rivalität seitens der Vereine, Medien und Ultras zu unterbinden, da Klubs, Medienpartner und Fanlager mit sich und dem von Seb beschrieben ‚Wo stehen WIR eigentlich?-Gedanken‘ beschäftigt waren, dann muss ich die DFL loben und DZ wiedersprechen.

    Das es für uns sportlich ein Festtag war steht außer Frage! Für den festlichen Rahmen haben BEIDE Fangruppen mit beeindruckenden Choreos und Gesängen gesorgt, um ihre jeweilige Mannschaft zu unterstützen und nicht um dem vermeintlichem ‚Klassenfeind‘ zu zeigen, wer hertha und eiserner ist.

    Wer sich mit Leuchteakten bewaffnet, maskiert und besoffski auf die Fresse hauen möchte, kann das gerne JWD auf nem Acker machen, aber nicht an der AF oder im OLY.

    Alle Beteiligten gestern haben auf beeindruckende Art und Weise eine gesunde Rivalität vor- und ausgelebt. Das war Werbung für den Berliner Sport, für die BL und besonders das was uns alle eint, dem Fußball.

    Unsere Stadt ist groß und bunt genug für zwei Vereine und es ist egal ob sie rot, oder blau ist – alles ist besser als grau.

  4. Höhemittellinie

    Sooo schöne Zeilen!!

    & Julian hat wirklich grandios gespielt!
    Zur Wahrheit gehört aber auch dass n Lukebakio und dahinter Kevin Boateng (zumindest gestern) defensiv kein Bundesliganiveau abliefern..

  5. Zu den Gesängen.
    Die waren nicht nur Unionbezogen denn es gab sehr gut hörbar Gesänge über Herthas Selke.
    Ich mag ihn zwar auch nicht, aber ihm deshalb Liedzeilen gönnen das er ein H****sohn sei fand ich dann doch übertrieben.

    Bei Leite fand ich seine Spieleröffnung klasse mit den langen diagonalen Bällen.

    Julian war klar der beste Mann, das sah man als er dann raus musste, ab da war irgendwie ein Bruch im Spiel.

    Was mir beim Gästeblock gefiel, dass das obligatorische „Scheiss Union“ gestern gar nicht zu hören war und man auch in der Pause beim Gedenken ruhig blieb und die häufigen“Stadtmeister“-Rufe unsererseits, geschenkt.

    Ich fand es generell sehr laut.

  6. matikovski

    Du konntest Ali zuschauen. Nun vor allem gabs was auf die Ohren. Die Daueranimation von Ali war ultralaut zu hören. Solange Ali den Alleinunterhalter gib, können sich viele zurückhalten und schweigen. Bald können andere hämisch über uns witzeln, weil die Permanentbeschallung im Prinzip von einen Megaphon stammt. Die Stimmung kommt bei uns aus einem Megaphon und ist laut und deutlich im ganzen Stadion zuhören.

  7. Apropos peinleich,
    Ali ist auch oft sehr gut alleine im TV zu hören.

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