Man kann sein, wo man will und tun, was man mag: selbst wenn man in Frankreich Goethe liest – Union lässt einen nicht los. Milan schreibt uns von unterwegs, und euch auch!
Auf einer Anhöhe vor dem Flusse Charante bei brütender Abendhitze, unter einem Walnussbaum und mit einer guten alten Steinmauer im Rücken lässt sich’s leicht entrückt fühlen. Schreiben wir das Jahr 1794?
Vielleicht ist hier gerade die Revolution durch, in Paris werden weiter Köpfe gehackt, in den Tropen Weimars gibt Goethe die ersten Bücher des Wilhelm Meister in Druck. Nein. Eine Ausgabe von 1988 hab ich ja auf dem Schoß. Ein Indiz, das mich in die Gegenwart zurück träumen lässt.
Darin lese ich etwas, das mich ganz aus den Träumen holt und die Erinnerung an das 1:0 gegen Bochum im Pokal wach ruft. Als Daniel Ernemann in der Schlussminute Wassilew anguckt , der ihm zunickt. Woraufhin Ernemann seinen Posten hinten verlässt, unbeachtet am Strafraum auftaucht und ihm der Ball durch göttliche Fügung, wir wollen das mal nicht Zufall nennen, vor die Füße rollt, von wo aus er das Ding mit aufreizender Lässigkeit (wie damals der Kurier schrieb) rein machte. Der Torpogo war nicht einmalig, aber wie immer unbeschreiblich.
Goethe hat mir auf das Heftigste diese und einige andere Szenen, eine mit Nikol, manche mit Texas u.ä., in meinem südwestfranzösischen Aufenthalt aufgedrängt, so dass ich meine, dieser Johann eisern von Goethe würde heute einen außerordentlichen Sportkommentator abgeben. Und ganz sicher wäre er Fan. Wahrscheinlich nicht von Motor Weimar. Da müsste mehr kommen, aber dann doch von Carl Zeiss Jena, wo er eine Zeit lang seine Freunde H.v.Humboldt, Fichte und Schiller besuchte – und als wahrer Weltgeist hätte er sicher die Kunde von Union aus der Hauptstadt offenen Herzens mit den üblichen Folgen aufgesogen.
Da aber damals der Fußball noch nicht mal in England zu Hause war, begeisterten sogar Seiltänzer die vor das Wirtshaus herbei strömenden Volksmassen, und endlich kann ich zum Zitate greifen:
„Narziß und Landrinette ließen sich in Tragsesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen. Man warf ihnen Bänder, Blumensträuße und seidene Tücher zu, und drängte sich, sie ins Gesicht zu fassen. Jedermann schien glücklich zu sein, sie anzusehn, und von ihnen eines Blickes gewürdigt zu werden.“
Hier horchte ich schon auf und war auf halben Wege an die alte Försterei, aber die nächsten Sätze katapultierten mich direkt auf meinen Stammplatz unten am Zaun auf der Gegengerade.
„Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch überhaupt würde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wünsche sehen, wenn er durch irgend ein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbrächte? Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle eben so schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volke erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Glücks und Unglücks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entzünden, erschüttern, und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen könnte!“
Ich sage in tiefer Verehrung DANKE, lieber Johann Wolfgang von Goethe, dass du mir meine vielen Stadionbesuche auf so kluge Weise begreifbar machtest. Und ich freue mich, das du uns dank meiner 40-bändigen Münchner Ausgabe als Autor erhalten bleibst.
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schön, wenn man geistig erfrischt in den Tag gehen kann.
Schön geschrieben. Hab noch viel Freude und Genuß im schönen Frankreich.
Wir sorgen derweil für Umsatz im Ziegen.
Jan