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Von Dämonen und Tigern. Die Menschen bei Union und ihre Saison 2016/17.

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Jens Keller schaute das erste Mal auf die ausverkauften Ränge der Alten Försterei, auf denen die Fans an diesem Abend besonders sangesfreudig waren. Er hatte erwartet, dass es laut werden würde. Schließlich hatte er Champions-League-Erfahrung. Doch das hier war mehr. Zu seiner Rechten summten die Fans von Dresden in schwarz-gelb wie tausend und ein paar wütende sächsische Hornissen. Überall sonst im Stadion: die Unioner in rot und weiß oder in schwarz. Die altmodisch wirkenden Ränge der Alten Försterei waren zum Bersten voll mit Fans, dicht aneinander gedrängt. Von ganz oben auf den Rängen, wo man sich eigentlich nur um 180 Grad drehen müsste, um den steilen Hang hinunter zu pissen – bis hin zum, nur von einen roten Stahlzaun getrennten, Spielfeldrand.

Die Waldseite vor dem Anpfiff des Heimspiels gegen Dresden, Foto: Tobi/unveu.de

Mit Bier und Liebe vollgetankt, brüllten sie wie aus einer Kehle. Auch hier waren die Gesänge mindestens genauso wütend wie auf der anderen Seite. Über donnernden Trommelschlägen und Pilsdeckchen, die wie betrunkene Schmetterlinge über den Köpfen schwebten, schienen die goldenen Strahlen der Abendsonne und beleuchteten das wilde Ritual. Den Wettbewerb des gegensätzlichen Verständnisses von dem, was es bedeutet von dort zu kommen, was einmal DDR genannt wurde. Die Giganten aus Elbflorenz und die Emporkömmlinge aus der Hauptstadt, deren Klub so lange zwischen den Ligen pendelte, dass ihr aktuelles Surfen auf der Erfolgswelle wie ein Versehen wirken musste, wenn man Faktoren wie solides Management und ehrliche Fan-Beteiligung mal außer Acht lässt.

Sie brüllten: “Eisern”

Keller trug schwarzes Polo-Shirt und Jeans, die neonfarbenen Schnürsenkel seiner makellosen Turnschuhe passten perfekt zu der bunten Umgebung. Er schaute hoch zu den gefüllten Rängen, trat ein paar Schritte bis zur Linie seiner Coaching-Zone vor und atmete tief ein. Er dachte an eine Freundin, die das hier sehr genossen hätte. Ansonsten war aber jeder da, wo er hingehörte. Henrik, sein Vertrauter, seine rechte Hand war da und Böni auch, seine Verbindung in die Vergangenheit und sein Trainee. Sie unterstützten ihn dabei, sein Team so gut es ging vorzubereiten. Und sie hatten den Spielern genug mitgegeben, um mit einem Quäntchen Glück, mit spielerischem Geschick, etwas Geduld und verdammt viel Arbeit in dieser Saison wirklich etwas auf die Beine stellen zu können. Etwas weiter links von ihnen auf der Bank saß Michael Parensen, auf seine Fingernägel starrend, um nicht allzu viel darüber nachdenken zu müssen, dass er nicht in der Startelf stand.

Uwe Neuhaus und Jens Keller in ihren Coaching-Zonen; Foto: Tobi/unveu.de

Er erlebte das hier natürlich nicht zum ersten Mal. Er war länger hier als jeder andere Spieler. Geholt von dem Mann, der ein paar Meter weiter rechts von Keller, die Linie runter stand. Uwe Neuhaus, der um Jahre jünger aussah als bei seinem letzten Mal hier. Das Funkeln in seinen Augen, zum Ende seiner Amtszeit in Berlin beinahe verschwunden, war wieder zurückgekehrt. Sonnengebräunt genoss er seinen Job bei Dynamo. Die Dresdner hatten mit ihm gerade die 3. Liga gewonnen, genau wie es ihm damals mit Union gelungen war – und mit Parensen. Einige altbekannte Gesichter hatte er schon gesehen. Freundlichere Gesichter als bei seinem letzten Auftritt hier, als er Union verließ. Steven Skrzybski hatte ihn schon gefunden. In seiner höflichen, wohlerzogenen Art wollte er sich bei Neuhaus einfach bedanken.

Es war ein Höllenspektakel und ein magischer Abend an diesem Montag in der Alten Försterei, dem ersten Heimspiel der Saison. Fast jeder, der da sein sollte, war da. Fast jeder. Aber nicht jeder.

Southern Man

Michael Parensen weiß, dass es im Leben wichtigere Dinge als Fußball gibt. Aber er weiß auch: Sobald man einmal die weiße Kreidelinie auf das Feld überschritten hat, gibt es nichts was wichtiger sein könnte. Einmal drehte er sich mitten im Spiel um und ließ Neuhaus lautstark wissen: ‚Ich mache meinen verdammten Job und du machst deinen!’ Er sagt, dass er so etwas bei Keller nie machen würde, doch in der passenden Situation würde er beim neuen Trainer wahrscheinlich genauso reagieren. Es würde nicht mehr oft geschehen, dass Neuhaus zugeben würde, dass jemand anderes Recht haben könnte, aber von Micha Parensen lies er sich es bieten. Micha Parensen ist nämlich nicht nur Gentleman (beim Betreten des Presseraumes hatte er kürzlich sämtliche Hände abgewehrt, bevor er nicht die Hand der Journalistin geschüttelt hatte, die ihm zwar am nächsten stand, aber von den anderen anwesenden Männern größtenteils ignoriert wurde), er ist auch hochintelligent. Jemand, der Bescheid weiß. Jemand, der blind versteht, dass im Fußball auf höchstem Niveau die kleinsten Details die größten Auswirkungen haben können. Es lohnt sich immer, ihm zuzuhören.

Michael Parensen in seinem ersten Spiel für Union, am 31.Januar 2009 gegen Schöneiche, Foto: Matze Koch

Als er bei Union aufschlug, hatte niemand erwartet, dass Parensen länger bleiben würde. Er war lediglich ein Linksverteidiger, der Union in der 3. Liga aushelfen können würde, solange Patrick Kohlmann verletzt fehlte. Der ist bald wieder weg, dachten viele Fans. Parensen war kein Großstadtkind. Einer, der in der spielfreien Zeit im Sommer BWL studierte. Einer, dem Berlin zu laut und zu hektisch war. Er wirkte viel zu normal und bodenständig – wie einer, den schon die bloße Idee eines Schlachtrufes abstösst. Er ist die Art von Typ, dem es egal ist, dass der Rest seiner Trainingsklamotten durch die unübersehbare Anwesenheit von schwarzen No-Name-Socken von Primark in seinen rot-schwarzen Nikes abgewertet wird.

Aber es gab Tränen in den Augen erwachsener Männer, als gegen Hertha sein Knie so furchtbar nachgab. Als er sich auf der Trage krümmte, seine Fäuste ballte, seinen Kiefer anspannte und mit seinen Zähnen knirschte. Mit diesen Zähnen, die so wunderbar normal waren, so unperfekt in einer Welt voll blitzendem und makellosem Weiß. Als Spieler und als Mensch war ziemlich schnell klar, dass Parensen einer von ihnen war.

Er schaute die meisten Spiele dieser Saison von der Bank oder – noch schlimmer – von der Tribüne. Er ist ein Profi. Zwar weiß er, wie die Dinge laufen und war immer entschlossen, niemanden zu enttäuschen, wenn er eingesetzt wurde. Aber trotzdem sagt er: “Ich weiß nicht, ob ich Spiele wie ein Fan sehen könnte. Das ist wirklich schwierig zu sagen, denn ich weiss nicht, wie ich mich als Fan fühlen würde, weil ich den Vergleich ja nicht habe. Aber vielleicht ist es ein bisschen so.”

Michael Parensen vor der Saison 2016/17, Foto: Stefanie Fiebrig

Seine Schläfen ergrauen langsam. Und die Venen auf der Rückseite seines Unterschenkels treten etwas heraus wie bei einer alten Frau, die viel zu viele Jahre Einkaufstüten in ihre Wohnung im fünften Stock hochgeschleppt hat. Doch seine Stimme ist kräftiger als noch vor wenigen Jahren – dominierender. Auch in Interviews spricht er lauter. Und er brüllt über das Spielfeld – aber das hat er eigentlich schon immer getan. Er ist ein Berliner geworden. Er sagt, was er denkt. Die Vokale die er gewöhnlich härter ausgesprochen hätte, sind weicher geworden. „Ich fühle mich wohler. Ich glaube, da gab es eine Entwicklung. Natürlich zu Beginn, eine große Stadt … das ist schon schwierig. Ich bin etwas gelassener geworden und kann mit vielen Dingen ein bisschen besser umgehen.“

Underdog

Auch wenn sie häufig betrunken und für Außenstehende kaum verständlich sein mögen, so haben uns die wundervollen Lieder und Geschichten vom 1. FC Union Berlin doch gelehrt, dass es im Leben nicht immer so kommt, wie wir uns das in unseren Träumen ausmalen.

Aber zu sagen, dass Union deswegen ein Fußballverein wäre, bei dem das Glas immer halbleer ist, wäre falsch. “Wir sind keine Pessimisten. Das hat mich genervt, als Keller das gesagt hat”, meint Mario Jänicke, ein Mann, der als Fan und jetzt in Funktion bei Union, den Klub in und auswendig kennt. Er hat den Klub bei all seinen Hochs und Tiefs beinahe schon zwei Generationen lang begleitet. Mario hat Union nie aufgegeben, auch als alles vorbei zu sein schien. Er ist ein stolzer Eiserner Biker, eine Gruppe, die bekannt ist für ihre Offenheit – in einer Szene, die normalerweise das Gegenteil dessen verkörpert. Die Eisernen Biker sind bekannt für ihre Hingabe zu ihrem Fußballverein und zur freien Straße, auch wenn Mario zur Zeit nicht fahren kann. Er hat eine eine schöne und große Nase, gute Freunde, er hinkt etwas auf links und er versteht die Liebe, die sein Klub erzeugt, mehr als jeder andere. Er ist ein bemerkenswerter Mann. Die Unioner mögen nicht pessimistisch sein, aber sie haben das Talent, die Wirren einer lebenslangen Erfolglosigkeit auch genießen zu können.

Es gibt diese wunderbare Kurzgeschichte von Torsten Schulz, veröffentlicht im Buch Zonenfußball, in der der Autor plant und es auch schafft, während einer absolut gewöhnlichen und komplett vorhersehbaren 0:4 Niederlage zu Hause gegen Eintracht Frankfurt, das Herz eine Frau zu gewinnen. Sie endet mit diesen Zeilen:

Irgendwann, vielleicht fünf oder sechs Jahre später, als wir dabei waren uns zu trennen, habe ich mir gedacht: Dass ich über die Niederlage meines Teams überglücklich war, war tatsächlich ein echter Betrug. Und Liebe kann nicht auf Betrug aufgebaut werden.* 

Recht hat er. Liebe kann man nicht auf Lügen aufbauen. Aber durch gemeinsam durchlebte harte Zeiten wird sie oft noch stärker. Mario weiß, wie lächerlich es sich anhört, wenn er sagt, dass sein liebstes Unionspiel aller Zeiten die Niederlage kurz nach der Jahrtausendwende im Play-off gegen Osnabrück war, die erst im Elfmeterschießen nach dem 19. Elfmeter entschieden wurde. Doch in dieser Nacht entdeckte er wieder, wie anders sein Klub war. Nicht der Sieg war das wichtigste, sondern die Gemeinschaft, die Familie, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und wie alle vor Ort getrunken und gesungen, sich umarmt und geküsst und geweint haben. Eine Geschichte wie aus einem Country-Song.

Unions Kay Wehner tritt an zum letzten Elfmeter im Aufstiegsspiel gegen Osnabrück; Screenshot: N3/Youtube

Wenn also Leute von außerhalb über den Bundesliga-Aufstieg von Union sprachen, dann klang das meistens so wie bei Kindern, die sagen, dass sie mal Raumfahrer werden wollen. Oder wie bei Alkoholikern, die dir erzählen, dass sie endgültig mit Trinken aufhören würden. Nicht 2017. Irgendwann in der Zukunft. Nur nicht festlegen.

Weil sie hier in Köpenick eben nicht an nachhaltigen Erfolg gewöhnt waren. Zum Beispiel vor 21 Jahren, am 27. April 1996, schlug Union den BFC Dynamo mit 4:0 in der Alten Försterei – vor nur 1500 Fans. Eine erbärmliche Zahl und unvorstellbar nur ein Jahrzehnt zuvor, als das Derby noch das Stadion der Weltjugend gefüllt hatte. So schlimm stand es auf einmal um Union, so tief waren sie gefallen. Sie krochen von Krise zu Krise, manchmal selbst verschuldet, häufig nicht. Mario ging weiter zu den Spielen, aber Tausende hatten damit aufgehört.

Jens Keller schoss in Mainz am selben Tag den Ausgleichstreffer zum 1:1 für Wolfsburg. Die Ironie der Geschichte will es, dass der erste Treffer des Spiels von einem gewissen Jürgen Klopp versenkt wurde, der später einmal sagen würde, nie bei Union als Trainer arbeiten zu wollen, und deshalb bei Union wohl auch nie willkommen sein würde. Keller kannte Union. Er würde hier einige Jahre als Spieler von Eintracht Frankfurt diese auf dem Weg zum Aufstieg unterstützen. Aber damals war Union ein kleiner Fisch. Als er damals das Tor in Mainz feierte, hatte er keine Ahnung davon, dass in Berlin ein Derby gespielt wurde. Niemand interessierte das und er war eh mit der Bundesliga beschäftigt. “Ich habe mich nie mit dem Verein befasst, bevor nicht klar war, dass der Verein ein Interesse hat, mich zu verpflichten.”

Die neue Welt des bundesdeutschen Fußballs war genauso unerbittlich und unfreundlich zu Union, wie es die alte vor dem Mauerfall gewesen war. Natürlich ging es nicht nur ihnen so. Im Rückspiel zwischen Union und Dresden im Januar wirkten Dixie Dörner und Klaus Sammer wie Geister. Relikte aus vergangener Zeit und vergangener Fussballmacht. Sie waren einsame Helden im einzigen Klub ihrer Stadt. Aber die großen Versprechungen, die nach dem Untergang des Sozialismus gemacht wurden, wurde nur selten eingelöst. Das Grab von Mäcki Lauck, dem besten Spieler beim Sieg der DDR-Nationalmannschaft gegen die BRD in Hamburg, wird kaum noch gepflegt. Das Nutzungsrecht läuft in diesem Jahr ab. Die Fußballspieler und Fußballclubs der DDR wurden genauso behandelt wie alle anderen Institutionen. Sie wurden entweder eingestampft oder dem Verfall überlassen.

Das Grab von Reinhard „Mecky“ Lauck, Foto: Sebastian Fiebrig/Instagram

Um zu überleben (von Erfolg wagte damals keiner zu reden) musste Union ironischerweise auf seine Erfahrungen in der DDR zurückgreifen. Dem Land, dessen Regierung sie immer in tiefster Abneigung verbunden waren. Erfahrungen, wie man sich durchmogeln – und die wenigen vorhandenen Ressourcen effektiv nutzen kann. Wenn man überleben wollte, dann nur mit gemeinsamen Kräften, ohne die da draussen. Wie eine Familie.

Mit den Worten von Henrik Pedersen: “Wir haben einen fantastischen Klub mit einer fantastischen Philosophie. Aber all das hilft uns nicht, wenn wir Angst davor haben, wir selbst zu sein.”

Anderer Fußball war möglich. Im Fall von Union lag der Neuanfang in den Händen der Wenigen, denen der Verein noch was bedeutete. Bei Fans wie Mario. Nein, sie sind keine Pessimisten. Aber in diesem Kontext, wie tief Union wirklich gefallen war, wird klar, wie weit der Verein heute wirklich gekommen ist.

The man comes around

“Das ist meine Stärke, dass ich viele Situationen sehr entspannt sehe. Wenn man verkrampft ist, kann man keine Leistung bringen.” Jens Keller lehnt sich zurück in die luxuriösen Polster seiner modernen Trainerbank. Holzbänke gibt’s nicht mehr in der Zweiten Liga, nicht mal bei einem Arbeiterklub. Und er wirkt tatsächlich entspannt, auch wenn er gerade das wöchentliche zwanzigminütige Presseritual hinter sich gebracht hat. Darauf könnte er gut verzichten. Zu sagen, er wäre kein Freund davon, wäre ziemlich untertrieben. “Das habe ich lange nicht gemacht, viele Jahre schon und deshalb komme ich dann ganz gut klar.” Er lacht wie jemand, der es nicht erwarten konnte, endlich den Rasen vor sich zu sehen.

Er kann das Gras riechen, die frisch gemalten Linien sehen. Seine Coachingzone – ein kleiner rechteckiger Bereich, der ihn während eines Spiels nur sehr schwer auf einem Fleck halten kann, ist in greifbarer Nähe. Jens Keller ist im Herzen immer noch Fußballspieler und nicht nur das. Wie Neuhaus vor ihm war er Innenverteidiger, er blutete und schwitzte, ein Arbeiter. Einer der sich für seine schmaleren und schwächeren Mitspieler stark machen musste. Diplomatie ist nicht seine Stärke. Es würde sein Leben um einiges leichter machen, wenn er manchmal einfach ein falsches Lächeln aufsetzen könnte. Aber wie die meisten Innenverteidiger ist er ein schlechter Lügner. Sein Gesicht verrät zu viel über ihn.

Jens Keller auf der Pressekonferenz vor dem DFB-Pokalspiel in Duisburg, Screenshot: AFTV

Er rollt mit den Augen, lehnt seinen Kopf ans Mikrofon vor ihm, als wenn er sagen möchte: “Du lieber Gott, nicht das schon wieder” und seine Augenbrauen folgen den Vorgaben seiner Stirnfalten. Sie schwirren umher wie die Stürme um den großen roten Fleck auf Jupiter. Er verzieht den Mund, schaut genervt auf den Boden, überprüft seine Fingernägel oder schaut über die Köpfe der Journalisten hinweg.

Einmal, bei einer Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Aue, versuchte ein armer Kerl einen neuen Ansatz. Er schmückte seine Frage aus, arbeitete sich in immer enger werdenden Kreisen an den eigentlichen Punkt heran, so wie Zizou sich geschickt am Ball bewegte, ohne unnötige Berührungen – dem Ball einfach seinen Willen lassen. Aber Zizou war ein Genie und würde irgendwann plötzlich loslegen, der Journalist nicht. Er verzettelte sich und endete irgendwo, ohne wirklich eine Frage gestellt zu haben. Keller beendete seine miesgelaunte Tagträumerei und schaute auf. Er hatte schon eine halbe Ewigkeit seinen Kaffee angestiert. Ein kurzes Lächeln und dann wieder der finstere Blick:

“Nein!” Mehr sagte er nicht.

Wenigstens ist es hier ein wenig besser. Auf Schalke gab es ein nationales Interesse, nicht nur regionales. Einmal war Kellers Sohn in eine Schulhofschlägerei geraten und die Presse berichtete darüber. Eine Scheiß-Situation. Hier in Berlin kann er wenigstens seinen Spaß mit den Journalisten haben. Hier kann er seine Spiele spielen.

Er erscheint plötzlich, wie ein gut gekleideter Geist mit einem so makellosen Scheitel, dass man Regale danach ausrichten könnte. “Mahlzeit” sagt er beiläufig, und dann, bevor man es merkt, ist er schon wieder verschwunden.

Jens Keller beim Drachenboot-Cup; Screenshot: Union/Twitter

Wahrscheinlich müsste Jens Keller einen viel größeren Klub als Union trainieren. Er hatte immer behauptet, ihm sei das Niveau, auf dem seine Profis spielen, egal. Aber das hat ihm nie jemand abgenommen. Typischerweise blieb er seinen Worten aber treu. “Eine Mannschaft zu führen, ist überall dasselbe. Es ist hier dasselbe wie in der Champions League. Die Qualität ist definitiv eine andere, aber davon abgesehen ist es dasselbe. Es ändert sich nichts.” Spieler sind einfach Menschen. Das ist wichtig.

Kellers Vater war Ingenieur bei Mercedes in Stuttgart (wie vermutlich jeder Vater in Stuttgart in den Siebzigern), aber er bestreitet prompt, dass sein Job in irgendeiner Weise ähnlich sei; sein Gebrauch von Systemen, seine sorgfältige Delegation und das Zusammenfügen gut kontrollierter Teile zu einem stimmigen Ganzen habe nichts damit gemein. Bei seiner Arbeit gehe es um Menschen und Emotionen, sagt er. Fußballer sind keine Maschinen. Union ist sicherlich nicht Mercedes, und man kann sich nicht allzu sehr auf langfristige Planung verlassen, wenn sich die Dinge täglich ändern – je nach Ergebnis, Tabellensituation und der emotionalen Dynamik einer engen und vollen Kabine. Er müsse reaktiv handeln, sagt er, und er dürfe auch romantisch sein. Sowas gibt’s bei Mercedes nicht.

Jens Keller und Stephan Fürstner im Training;  Foto: Matze Koch

Er ist ungeheuer stolz auf den Fortschritt seiner Spieler in diesem Jahr. Auf Leistner und Trimmel und Skrzybski, auf die jungen Kristian Pedersen und Simon Hedlund, auf Philipp Hosiner. “Was mir am meisten Freude bereitet, ist auf dem Trainingsplatz zu stehen.” Das sieht man ihm an. Er lächelt während des Trainings, obwohl es regnet, obwohl er nur gelegentlich selbst mitspielen kann, gegen Ende, wenn die Spieler sich entspannen und runterkommen. Mit einem kurzen “Mahlzeit!” läuft er an den Journalisten vorbei, dreht sich noch einmal zu Stephan Fürstner um, der auf dem Weg zum Abtrocknen und Umziehen ist. Keller schlägt ihm auf den Rücken, flüstert ihm etwas ins Ohr und stößt dann ein tiefes Lachen aus. Fürstner geht weiter, jetzt mit einem Lächeln. Trotz des Regens. Keller tritt jeden Ball in seiner Nähe mit fantastischer Leichtigkeit.

Er war nie ein Spieler der allerhöchsten Kategorie. Er war nie auf Champions-League-Niveau, aber er war trotzdem sehr gut. Trainer wie Willi Reimann würden ihn auch heute noch aufstellen, wenn es ginge. Reimann holte ihn zu Eintracht Frankfurt, als Kellers Karriere eigentlich bereits hätte ausklingen müssen. Doch er brauchte einen Anführer auf dem Platz und einen Verteidiger, auf den er sich verlassen konnte. Reimann und Keller führten die Eintracht direkt wieder nach oben.

Keller gehört nicht vor die Presse. Keller gehört auf den Platz. Eigentlich war das so, seit er damals seinem großen Bruder durch die Parks und über die Bolzplätze am Rand von Stuttgart gefolgt war und versucht hatte, auch noch die wildesten Pässe und Schüsse zu erreichen und ständig Bälle aus Bäumen, Büschen und Gärten retten musste.

Keller gibt vor, sich nicht wirklich für die Vergangenheit zu interessieren. Aber er zuckt, wenn er nach seinem Tor gegen Mainz 1996 gefragt wird: “Es war mein einziges in der Saison? Sicher? Ich dachte, ich hätte ein paar mehr geschossen.”

Hat er nicht.

“Ach ja, ich war auch eh nur sechs Monate dort.” Ein gesundes Ego ist wichtig für alle, die es im Profisport so weit bringen wollen wie er. Seins ist noch immer vollkommen intakt. Er wird einem so oft es geht erzählen, dass er eine Mannschaft in der Champions League trainiert hat. Er erzählte seinen Spielern vor der Partie gegen Heidenheim, als alles schon verloren schien, dass seine Eintracht Frankfurt Mannschaft aufstieg, nachdem sie in den letzten fünf Minuten des letzten Saisonspiels drei Tore schießen musste. In erster Linie, um ihnen mitzugeben, dass alles möglich ist. Aber auch, um sie daran zu erinnern, dass er das alles schon einmal geschafft hat, dass er erfolgreich war, und sie ihm deshalb vertrauen können.

Michael Parensen und Jens Keller nach dem letzten Saisonspiel in Fürth, Foto: Matze Koch

Parensen sagt, die Ähnlichkeiten zwischen Neuhaus und Keller hörten nicht bei der Größe ihrer Uhren auf. Bei beiden fände man in ihrem Auftreten eine Mischung aus Alpha-Männchen und Entspannung: “Selbstbewusst? Ja, natürlich. Sie vermitteln ihre Vorstellung von Fußball auf der Grundlage dessen, was sie bereits geleistet haben.” Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass auch er Verteidiger ist, dass er den Einwand vorwegnimmt: ”Ich weiß nicht, wie sie als Spieler waren.” Das ist eine Schande, denn Micha ist beides, Verteidiger und Mittelfeldspieler. Perfekt qualifiziert zu erklären, wie die beiden ticken. Aber Keller würde eh nie soviel über sich sich preisgeben.

Pale Blue Eyes

Henrik Pedersen entschuldigt sich für seine Verspätung. Um dann unaufgefordert eine Geschichte von Hochs und Tiefs zu beginnen, die, obwohl sie aus einer anderen Welt stammt, doch perfekt zu Union passt. Und zu diesem Frühling 2017, in dem auf einmal alles möglich schien. Seine Geschichte beginnt als fußballverrückter Junge in Dänemark, dessen Träume mit seiner Achillessehne und seinem linken Knie zuerst zerbrachen, bevor ihn dann sein Weg über das verhasste Red Bull nach Köpenick führte.

Henrik Pedersen und Jens Keller jubeln nach dem Abpfiff der Partie gegen Nürnberg am 20.3.2017, Foto: Matze Koch

Er versteht die Wut auf die neureichen Emporkömmlinge. Doch er wird sich nicht dafür entschuldigen, die vergangenen acht Jahre auf kontinuierlich wichtiger werdenden Positionen dort gearbeitet zu haben. Dort konnte er seine Fähigkeiten verfeinern und die Techniken verbessern, die ihn heute zu einem der modernsten Fußballtrainer machen. “Ich lerne jeden Tag mehr und habe jetzt ein großes Herz für Union. Als ich hier ankam, war ich Henrik von RB, doch jetzt bin ich einfach Henrik. Wie in allen Beziehungen braucht man Zeit, um zusammen zu wachsen und sich gegenseitig auf ein höheres Niveau zu bringen. Und es hat geklappt. Ich fühle mich gut hier.”

Henrik wollte Fußballer sein. Alles drehte sich genau darum bis BÄNG! auf einmal alles vorbei war. Er musste einen neuen Weg: “Ich habe mich drüber identifiziert, und dann war es weg. Aber wie bei allem im Leben, ergibt es im Rückblick Sinn. Statt ein Spitzenspieler sein zu wollen, entschied ich mich, ein Spitzentrainer zu werden.” Er beschwört im Gespräch innerhalb kürzester Zeit die Großen des dänischen Fußballs, als er meint, dass er niemals den selben Weg im Trainergeschäft wie zum Beispiel Michael Laudrup nehmen könnte. Seine Geschichte streift das Büro von Claudio Ranieri, und dessen Wärme und Offenherzigkeit ihm gegenüber. Ihm hätte er alles zu verdanken. Bei Ranieri rannte Henrik offene Türen ein, die ihm niemals hätten offen stehen dürfen. Pedersen verbrachte Jahre damit, bei Vereinen wie Barcelona, Chelsea oder Liverpool beim Training zu hospitieren. Er beobachtete das Spiel, die Menschen, die es spielen und sich selbst.

“Mit 28 hatte ich eine Depression. Von dem Punkt an, habe ich begonnen, mein Leben nach meinen eigenen Regeln aufzubauen. Ich habe begonnen, herauszufinden, wer ich war. Ich bin Henrik, und ich bin Fußballtrainer. Das ist ein Gefühl, etwas, das man nicht aus einem Buch lernen kann. Es braucht die Erfahrung, ein unbewusstes Wissen in sich.”

Henrik Pedersen im Trainingslager in Spanien mit Philipp Hosiner und Collin Quaner, Foto: Matze Koch

Von da an erkannte Pedersen, wie fundamental wichtig das Jetzt ist. Er erkannte, dass man sich selbst blockiert, wenn man nur in der Vergangenheit oder der Zukunft lebt. Die konstante Spannung zwischen Herz und Hirn. Pedersen spricht wie ein Selbsthilfe-Guru aus Kalifornien. Er würde eine hervorragende Figur als Anführer einer Sekte machen. Dieser Gestus blitzt immer wieder auf, während Pedersen seinen Gesprächspartner immer weiter in sein leise gesprochenes Universum hinein führt, wo alles möglich ist, wenn man an sich glaubt und im Jetzt lebt. “Hast du Angst, fürchtest du dich vor der Zukunft? Wenn wir in unserem Hirn bleiben, denken wir immer an die Vergangenheit oder die Zukunft. Oder sind wir im Moment? Dann sind wir hier, so wie wir gerade sind. Wir sind im Augenblick.”

Es ist hochgradig verwirrend, und scheint aufgeschrieben fast unverständlich. Aber in dem Moment, in dem du es hörst, lässt Henrik dich wissen, dass er dich auf diesem Weg begleitet, deine Hand hält. Er lächelt einnehmend, seine blassen, nordisch blauen Augen schauen dich an, und er würzt seinen Monolog mit Fragen, die sicherstellen, dass man tatsächlich versteht, was er meint. Er arbeitet eng mit seinen Spielern zusammen, führt Einzelgespräche mit ihnen, vermittelt ihnen, was sie erreichen können. “Viele Trainer arbeiten nur an ihrer Spielweise, aber sie vergessen die Menschen dabei. Sie vergessen, dass sie mit Menschen arbeiten. Und dann verstehen sie nicht, wenn das nicht funktioniert.” Er lehnt sich zurück, lässt für einen Moment wirken, was er gesagt hat und fragt: “Ergibt das Sinn?”

Ob es das tut oder nicht, lässt sich manchmal schwer sagen. Aber man mag Henrik, und es funktioniert.

Damir Kreilach mit Henrik Pedersen, Foto: Matze Koch

Als Pedersen bei schüttendem Regen um 10 Uhr morgens an einem Donnerstag Hütchen für ein Training aufstellt, macht er das mit derselben fokussierten Intensität. Seine Augen sind auf einen Punkt etwa einen Meter vor seinen Füßen gerichtet, er stellt die Markierungen an genau der richtigen Stelle auf. Präzise. Er wird laut, wenn es nötig ist, er ist kein vergeistigter Professor. Der „Ferguson-Fön“ funktioniere immer noch, sagt er, aber er ist nicht mehr ganz so wirksam im Umgang mit den Fußballern heutzutage.

Man müsse bedenken, dass man es mit Menschen und mit ihren menschlichen Schwächen zu tun habe. Pedersen leitet große Teile des Trainings. Auch während der Spiele ist er auf der Bank eine ständige Präsenz und immer wieder zu hören. Es macht Spaß, seine Jubelstürme zu sehen, bei denen er die Seitenlinie hoch- und runterspringt, mit Spielern abschlägt und ihren Glauben an sich selbst stärkt. Er ist der Erste, der aus der Kabine kommt, und der Letzte, der dorthin zurück geht. Er leitet die Spieler bei den Einzelübungen an, schaut ihnen dabei tief in die Augen und erzählt ihnen von ihrem Herz und ihrem Hirn und bringt ihnen bei, zu erkennen, welcher Teil in welchem Moment die Kontrolle innehat, und warum es wahrscheinlich andersrum besser wäre.

Es geht darum, mutig zu sein: “Dieses Problem gibt es überall auf der Welt. Wir alle haben Angst, nicht gut genug zu sein.“

Reach out (I’ll be there)

Es war März. Die Sonne hatte man in den langen Monaten seit der Winterpause kaum gesehen, Union stand auf einem nie dagewesenen Platz 3 und führte 1-0 gegen die Würzburger Kickers. Die Franken spielten in Überzahl, nachdem Roberto Puncec für zwei Ellbogenschieber in fünf Minuten vom Platz geflogen war. Das wirkte in dem Moment etwas ungerecht, stellte sich im Nachhinein aber einfach als Dummheit heraus. Puncec hatte sich provozieren lassen und war damit auf einen der ältesten Tricks auf dem Platz hereingefallen. Union geriet zunehmend unter Druck. Valdet Rama und David Pisot besetzten die rechte Würzburger Seite, nervten so viel wie möglich und rissen mit ihren Kombinationen ein ums andere Mal Löcher in die linke Abwehrseite von Union.

Roberto Puncec trifft Elia Soriano mit dem Arm im Gesicht, Foto: Matze Koch

Ein Einwurf, Rama warf auf Pisot (oder andersrum – die beiden ließen sich kaum mehr auseinanderhalten – dank des kochenden Zorns auf den Rängen und angesichts des frenetischen Tempos, mit dem die entnervten Spieler sich bemühten – es spielt aber auch keine Rolle mehr), doch bevor der Würzburger sich besinnen und für eine Option entscheiden konnten, flog Micha Parensen heran, um ihm mit perfektem Timing den Ball vom Fuß zu grätschen. Parensen sprang auf und reckte seine geballten Fäuste den Rängen entgegen. “Kommt schon!”, schrie er in Richtung Fans und diese ließen sich nicht zweimal bitten. Der Donner wurde heraufbeschworen und die Götter zum Handeln gefordert. Das Spiel war das erste der Saison, dass er von Beginn an spielen sollte, und Keller war mehr denn je auf ihn angewiesen. “Für diese Saison war das natürlich schon besonders, denn ich habe nicht so viele Spiele von Beginn gemacht”, sagt er.

Zwanzig Minuten später zitterte Union noch immer um den Sieg. Hedlund wurde geopfert, um Emmanuel Pogatetz den Platz von Puncec einnehmen zu lassen, als Parensen selbst einen Einwurf ausführt, fast genau an der selben Stelle wie der von Würzburg zuvor. Parensen schrie rüber zu Steven Skrzybski, der auf der anderen Seite des Feldes stand, er solle weiter einrücken. Union musste das Feld so schmal wie möglich machen, um nicht von der Mannschaft in Überzahl auseinandergenommen zu werden. Skrzybski blies seine Backen auf und trabte etwas in die Mitte. Aber nicht mit Parensen. Nicht so.

Nein, forderte er. Schneller, näher, enger, Stevie. Jetzt!

Steven Skrzybski im Spiel gegen die Würzbuerger Kickers – Foto: Hupe/union-foto.de

Skrzybski konnte einem leidtun, schließlich gab es bis auf Damir Kreilach in der ganzen Liga niemanden der so viel lief wie er. Skrzybski war eingerückt und nach Außen ausgewichen, hatte Lücken gestopft und Räume geöffnet, und war überhaupt für Wochen unermüdlich den rechten Flügel hoch und runter gelaufen. Doch Parensen hatte Recht. Der junge Außenstürmer biss auf die Zähne und zog seinen Gegenspieler mit sich bis in den Mittelkreis, nur um zu sehen, wie Parensen den Einwurf kurz ausführte, den Ball zurück bekam und ihn lang die linke Seite herunter schlug. Skrzybski biss sich noch einmal auf die Zähne, und lief zurück an die Stelle, von der er gerade kam.

“Und natürlich zu zehnt dann ein Spiel gewinnen. Ja, das ist schon was, was die Mannschaft natürlich sehr zusammenbringt. Weil jeder den fehlenden Mann ersetzen und sich deswegen mehr einbringen muss.” Zuvor, nach zwanzig gespielten Minuten, hatte Felix Kroos eine Ecke von rechts auf den kurzen Pfosten geschlagen. Micha stieg hoch und verlängerte den Ball genau richtig in den Fünfmeterraum, wo Sebastian Polter seinen Gegenspieler aus dem Weg räumte und einen Kopfball zum 1-0 im Tor versenkte.

“Daran werde ich mich lange erinnern”, sagt Parensen mit einem Grinsen über das ganze Gesicht. Er habe sich nicht besonders darum bemüht, ein Beispiel für seine Mitspieler zu sein, nicht mehr jedenfalls als sonst auch. Aber er tat genau das. Es war dieses Spiel, das viele davon überzeugte, dass Union dazu bestimmt war, in die Bundesliga aufzusteigen. Und wenn sie nicht dazu bestimmt waren, würden sie trotzdem um die Chance darum kämpfen.

You Can get It If You Really Want

Niemand im Fußball spricht von einem Aufstieg bevor es soweit ist. Bringt eh nur Unglück. Der Himmel würde sich rot verfärben, die Meere überkochen und man wäre auf jedem Fall zu einer weiteren Saison im Vorhof der Hölle verdammt, aus dem man gerade versucht hat rauszukommen. Doch Anfang des Jahres 2017 konnte man plötzlich merkwürdige Töne in Köpenick vernehmen. Jens Keller beantworte Fragen nach dem Aufstieg auf einmal mit ‘Ja’. Toni Leistner tat es ihm gleich. Ebenso wie sein bester Kumpel Sebastian Polter, nachdem dieser triumphal aus seinem persönlichen Fegefeuer im Westen Londons zurückgekehrt war. Am Leib nicht mehr als seine lächerliche Farbklecks-Jeans und dem unbedingten Willen, endlich wieder Fußball spielen zu können. „Warum nicht?, sagten wir alle: Wir gewinnen und sind weiter oben dran.

Plötzlich stand die gewohnte Ordnung der Dinge auf dem Kopf. Plötzlich war der Aufstieg nicht mehr nur eine mathematische Möglichkeit, sondern eine realistische. “Natürlich reden wir darüber,” sagte Parensen einige Tage vor dem Spiel in Stuttgart, als sich Union mit einem Sieg punktgleich mit den Gastgebern ebenso wie Hannover und Braunschweig an die Spitze hätte setzen können. “Wir reden darüber, wir denken daran, und natürlich wollen wir es erreichen.”

Transparent nach dem Spiel gegen Würzburg, Foto: Matze Koch

Darum geht es hier schließlich: “Wir sind Sportler.” Union war nicht die beste Mannschaft in dieser Zweiten Liga, aber es gab Momente, in denen sie besseren Fußball spielte als alle anderen. Und selbst als diese Momente weniger wurden und die Leistungen abflachten, gewannen sie trotzdem – wie in 90 zähen Minuten in Karlsruhe, in denen es eines glücklichen Elfmeters und eines völlig unfähigen Gegners bedurfte, der zu blöd war, den verdammten Ball mehr als einmal ins verdammte Tor zu schießen.

Zu Weihnachten fingen sie an, über den Aufstieg zu reden, und hörten nicht mehr damit auf, als Union gegen Bielefeld und Karlsruhe gewann, gegen Sechzig und Würzburg, gegen St. Pauli und schließlich Nürnberg, als die Siegesserie sie an die Tabellenspitze geführt hatte. Sie redeten weiter davon, als ihnen vorgehalten wurde, dass es vielleicht besser wäre, das nicht zu tun. Denn Keller war klar, dass es zwecklos wäre, aus Aberglauben so zu tun als sei irgendetwas anderes das Ziel. Schließlich könnten auch seine Spieler Zeitungen lesen und mit dem Internet umgehen.

Und Parensen zufolge hatten sie auch Spaß dabei: “Natürlich es ist schön, so lange du um etwas spielst. Es ist schön und macht mehr Spaß, als wenn wir am Ende um Platz sieben oder neun spielen.”

Und eins beweist Kellers Karriere definitiv – der Mann weiß, wie man aus der Zweiten Liga herauskommt. Er hat sein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Als Spieler mit Wolfsburg und mit Frankfurt (jeweils unter Führung des großartigen früheren HSV-Stürmers Reimann), genau wie mit 1860, das der Zigaretten rauchende Werner Lorant aus der dritten Liga nach oben führte. “Ich bin Realist”, sagt Keller, während er eine lange Pause macht, um darüber nachzudenken, ob er an Wunder glaubt oder nicht. Er entscheidet sich schließlich, die Frage nicht wirklich zu beantworten, gibt aber zu, dass er auch eine romantische Ader hat. Vielleicht möchte er nicht, dass wir das über ihn wissen, aber Keller glaubt tief und fest an die Fähigkeit von Menschen, Großes zu erreichen. Bis ganz ans Ende der Saison, als der Aufstieg schließlich auch keine mathematische Möglichkeit mehr war, glaubte Keller ernsthaft an die Chance seiner Mannschaft, trotz der übermächtigen und mit unendlich mehr Ressourcen ausgestatteten Konkurrenz aufzusteigen.

Er war damit nicht allein. Jeder begann, solche Momente zu haben. Nicht klare Gedanken, sondern schmutzige kleine Ahnungen, dass hier vielleicht – ganz vielleicht – etwas gehen würde.

Die Anzeigetafel nach dem Spiel gegen Nürnberg in der Rückrunde; Foto: Tobi/unveu.de

Da war der Tag, an dem St. Pauli Hannover ein 0-0 Unentschieden abtrotzte, Fürth gegen Stuttgart gewann und damit das Wissen einher ging, dass Union mit einem Sieg am Montag gegen Nürnberg an die Tabellenspitze springen würde. Da war der Morgen am Tag nach dem Spiel in St. Pauli am Millerntor, als man sich mit schwerem Kopf und leichtem Herz fragte, wie genau man am Abend zuvor nach Hause gekommen war und wusste, dass der gleiche Schutzengel, der über den eigenen Heimweg gewacht hatte, vielleicht derselbe war, der dieser bemerkenswerten Mannschaft beigestanden – und mit Polters unfassbar glücklichem Meisterstück geholfen hatte, als der Ball mit einer Entschuldigung für soviel Glück von seinem rechten Knie abgeprallt war, während der Stürmer sein linkes Bein nach ihm schwang. Oder der Schutzengel, der Wolfgang Hesl irgendwie am Ball vorbei treten ließ, als Union, noch im Hochsommer, 4:4 in Bielefeld gespielt hatte.

Oder als Felix Kroos im Rückspiel gegen die Ostwestfalen seinen Freistoß mit soviel Gewalt und Präzision getreten hatte, dass der Torhüter nur mit offenem Mund vor der Waldseite stillstehen konnte und sich wunderte, woher bloß dieser Ball gekommen war. Das zweite Tor in diesem Spiel war noch besser. Es war eine der Szenen, in denen der moderne, offene Fußball aus Kellers und Pedersens Träumen zu voller Blüte kam. Der Linksverteidiger Kristian Pedersen gewann einen Zweikampf auf Außen und fand Fürstner in der Mitte mit einem einfachen, kurzen Pass. Fürstner spielte den Ball weiter nach rechts auf Trimmel, der, dreißig Meter vom Tor entfernt, plötzlich in den Strafraum eindrang und einen wunderschönen Flugball auf den langen Pfosten spielte, der eine Stunde lang in der Luft hing. Trimmels Ball war so sanft, dass Damir Kreilach nur mehr seinen Kopf hinhalten musste.

Collin Quaner nach seinem Treffer gegen Hannover, Foto: Hupe/union-foto.de

Vielleicht begann es aber auch schon viel früher. Vielleicht während Collin Quaners bemerkenswertem, Spiel veränderndem Cameo-Auftritt gegen Hannover, als er innerhalb von fünf Minuten das Spiel mit einem Tor und einer Vorlage drehte, und dabei die bis dahin sicher und ruhig wirkenden Verteidiger in stammelnde Wracks verwandelte, Schatten ihrer selbst im Angesicht dieses Hünen, der außerhalb des Platzes ungelenk aussah, aber für fünf Monate zum schlagkräftigsten und effektivsten Stürmer der Liga wurde. Quaners Volley beim 4:0 gegen Karlsruhe war eine Schönheit. Sein Schuss, der im atemberaubenden Unentschieden in Bielefeld von der Unterkante der Latte ins Tor einschlug, war schlicht brutal.

Gegen die Würzburger Kickers kam Kristian Pedersens fehlende Erfahrung zum Vorschein – das musste ja irgendwann passieren. Er spielte einen fahrlässigen Rückpass, nicht desaströs, aber mit der Ungenauigkeit eines jungen Spielers, der ins Becken geschubst wird, um schwimmen zu lernen. Würzburgs Stürmer Nejmeddin Daghfous erlief den Ball, aber sofort interveniert Toni Leistner mit einer Grätsche majestätischer Präzision, die sich gefühlt über 10 Schrittlängen streckte. Der Schuss, der Daghfous dann noch gelang, war eine Rückgabe auf Busk. Rico Benatelli war bei seinem Nachschuss noch so sehr von Leistners Einsatz beeindruckt, dass es wirkte, als wollte er lieber überhaupt nicht schießen.

Oder Skrzybskis Volley gegen Stuttgart. Oder sein Heber gegen Aue. Oder, oder, oder. Stevie hat sich zu einem der besten Spieler der Liga entwickelt. In manchen Momenten wirkte es, als wolle er Union allein zum Aufstieg schießen.

Oder Hedlunds Tor gegen Braunschweig, bei dem man die Last von seinen Schultern fallen sah, die dann als schwarze Wolke in den Köpenicker Nachthimmel aufstieg. Diese Mannschaft hatte Kampf in sich und hielt zusammen. Pedersen spielte gegen Bochum mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter. In den ersten Minuten in Karlsruhe ging Polter etwas leicht zu Boden. Er war ein wenig am Trikot gezogen worden. Nicht sehr, aber gerade genug, ihn zum Fallen zu bewegen. Die Heimmannschaft beschwerte sich ausdauernd über die Elfmeterentscheidung, sie argumentierten, maulten und heulten rum. In der Zwischenzeit redete Polter mit Hedlund, gab ihm den Ball in einer selbstlosen Geste, die zeigte, dass Union eine Mannschaft war und es keine Rolle spielte, wer die Tore schoss. Wichtig war nur, dass sie fielen.

Nach dem Tor zum 1:0 zeigen die Spieler zeigen das Trikot des verletzten Philipp Hosiner, Foto: Matze Koch

Einige Wochen zuvor, beim Unentschieden im Heimspiel gegen Fürth feierten die Spieler gemeinsam Toni Leistners imposanten Kopfball und hielten dabei ein Trikot von Philipp Hosiner hoch, der in den Tagen zuvor einen Lungenkollaps erlitten hatte. Sie sorgten sich um ihren Teamkollegen und wollten ihn das wissen lassen.

Und dann kam das Spiel gegen Nürnberg. Eine Stunde war rum und Skrzybski hatte sich einmal mehr in Grund und Boden gerannt. Er mühte sich damit ab, die rechte Seite zuzustellen und nach Lösungen in der Offensive zu suchen. Er wusste, ein einziges Tor, ein einziger Sieg, einfach drei Punkte würden reichen, Union an die Tabellenspitze zu bringen. Union wirkte etwas unsicher, das Publikum spürte das und steigerte sich ebenfalls in nervöse Anspannung rein. Mitte der zweiten Halbzeit war es still in der Alten Försterei. Sebastian Polter hatte drei ordentliche Chancen ausgelassen, in einer eins-gegen-eins Situation mit dem Torhüter traf er den Pfosten, statt wie gewohnt den Ball mit vollkommener Sicherheit im Tor unterzubringen.

Aber dann verletzte sich der Schiedsrichter. Keller rief seine Truppe zusammen, er nutzte die Unterbrechung wie ein Timeout im Basketball. Union wirkte wie neugeboren. Keller holte Felix Kroos vom Feld und ersetzte ihn durch Hosiner. Jetzt hieß es volles Risiko – Alles oder Nichts. Skrzybski holte ein letztes Mal tief Luft, als wolle er gleich nach Perlen tauchen, und sprintete nach innen, stoppte und legte den Ball in die Mitte, direkt in den Lauf von Hosiner. Der traf seinen Abschluss und der dann folgende Wahnsinn erfasste alles und jedem im Stadion. Eine Riesenparty brach aus – laut und chaotisch und herrlich und wild.

Überall waren Menschen, Menschen wie Mario, die nicht glauben konnten, was sie da gerade gesehen hatten. Menschen, die sich an ein Freundschaftsspiel gegen Hertha vor nicht mal zehn Jahren erinnern konnten, die damals stolz ihre roten Bauhelme getragen hatten und Tränen in den Augen hatten, weil es endlich, zum ersten Mal ein Dach gab, das in Momenten wie diesen vom Stadion fliegen konnte.

In manchen Momenten dieser Phase, in der alles aufging, in der jede Auswechslung ein Geniestreich war, jedes Tor entscheidend schien und jede Grätsche wie ein göttlicher Hammerschlag wirkte, sah es aus, als könnte Union tatsächlich durch diese Liga spazieren.

Jens Keller im Frühstücksfernsehen; Screenshot: Sat1 via Colin Warning

Keller trat, kurz nach dem Spiel gegen Nürnberg im Frühstücksfernsehen auf. Die Pressekonferenzen waren merklich voller, Interviewanfragen gab es immer häufiger, auch von überregionalen Medien und vom Fernsehen. Aus aller Welt. Überall begannen Menschen diesen kleinen Verein und das, was er gerade erreichte, zu bemerken.

Keller gab sich in seinen TV-Auftritten merklich anders. Er war jovialer als in den Pressekonferenzen. Er erwischte sich sicher noch immer bei dem Gedanken ’nicht schon wieder diese dumme Frage,‘ aber dann erinnerte er sich daran, wo er war, lächelte und sang weiter seinen Lieblingssong. Der mit dem schönen Refrain ‚Warum nicht. Warum sollten wir nicht an der Spitze der Liga stehen.‘

Demons

Dirk Zingler ist sich sicher, Jens Keller auch: Union wird sehr bald in der Bundesliga spielen. Das müssen sie auch, denn schließlich ist das der Zweck des Ganzen. Doch manche sehen gerade diesen Anspruch als sehr gefährlich an. Union hat sich immer über seine Feinde definiert – was passiert, wenn der letzte dieser Dämonen besiegt ist? Bleibt dann nur noch die Suche nach mehr Geld? Wird man sich gegen sich selbst wenden, und eine Szene aus ‘Komm, wir finden einen Schatz’ nachspielen?

“Schade,” sagte der kleine Tiger, “Dein Anteil ist jetzt futsch, Bär.”
“Mein Anteil?” rief der kleine Bär, “Wieso denn mein Anteil? Dein Anteil, du frecher Lümmel du!”
Der kleine Tiger nannte den kleinen Bären einen liederlichen Lumpensack. Und das ging so hin und her, bis sie sich prügelten.

Micha Parensen zumindest ist sich sicher, dass der Kampf weitergehen wird, dass Union sich nie der Gentrifizierung und dem absoluten Kommerz hingeben wird, wie es viele andere und auch einige der wildesten Ecken Berlins getan haben. Und er will, dass Union die Gelegenheit bekommt, auch in der Bundesliga zu leuchten. Gerade weil er weiß, dass es auch dort Dämonen gibt, die es zu besiegen gilt. Ja, Parensen hat etwas von der Berliner Arroganz und Lust zur Konfrontation verinnerlicht. “Ich glaube nicht, dass das hier passieren könnte, weil wir …,” er erinnert sich, dass er Spieler sein sollte, nicht Fan, und korrigiert sich, “… der Verein, die Leute, diese einzigartige Identität haben. Sie polarisieren. Es wird immer einen Feind geben. Deshalb wird es dazu nie kommen. Union wird nie ein Verein sein, zu dem Leute ‘na und’ sagen. Es wird nie ein Klub sein, der sich anpasst, und den man bequem in eine Ecke stellen kann.”

Foto: Matze Koch

Das ist es. Er kann die Angst, Union könnte sich ausverkaufen, nicht nachvollziehen. Er glaubt nicht an die Gefahr, hier könnten irgendwann zu viele neue Leute dazu kommen. Solange sie ein Teil des Ganzen sein wollen. Das würde nur bedeuten, dass mehr gute Menschen zum Fußball gehen. Mehr Menschen, die den Gedanken vom guten Fußball, vom guten und etwas anderen Verein in die Welt tragen würden. Und er weiß, dass Union diese Stärke brauchen wird.

“Ich verstehe es ein Stück weit. Ich habe Menschen getroffen, die erklärt haben, was hinter diesen Gedanken steht. Aber letztlich hat es keinen Sinn. Denn warum machen wir das hier, warum spielen wir das Spiel? Wir wollen Erfolg haben. Union ist ein besonderer Verein, und wird das umso mehr sein, je mehr Leute dazu gehören, und wird dann weiter wachsen. Das kann nur gut für den Verein sein, ich sehe nichts Schlechtes darin.”

“Oh ihr kümmerlichen Dummköpfe”, sagt der Zeisig im Gras. “Da prügelt jeder von euch seinen allerbesten Freund, und nur wegen Geld. Morgen kommt der Beamte des Königs, dann habt ihr gar nichts. Nicht einmal mehr einen Freund. Oh, ihr Tölpel.”

Micha bleibt, hält aus, und versteht. Er ist der Zeisig im Gras. Die Unioner lieben ihn bedingungslos, weil er weise ist und nie aufgibt. Er hat nicht aufgegeben, als sein Knie nachgab, und auch nicht, als er aus der Startelf flog. Er hat seit der dritten Liga mit Dämonen gekämpft, und er weiß dass es noch viele mehr zu besiegen gilt.

Things fall apart

Etwas nagte an der Mannschaft, etwas, das sie davon abhielt, genießen zu können, ganz oben zu stehen. “Man beginnt zu denken, dass man etwas verteidigen muss, dass man sich an dieser Position halten muss. Man versucht, sie zu verteidigen, und kommt so schon zu einer anderen Denkweise. Das ist noch schwieriger, wenn sich Dinge ändern und neue Routinen hereinkommen,” erklärt Parensen. Der einzige Spieler in der Mannschaft, der mit Union in der 3. Liga vor acht Jahren in einer ähnlichen Position war.

Damir Kreilach nach seinem Eigentor in Düsseldorf, Foto: Matze Koch

Union tat sich von diesem Punkt an schwer – bis zum Ende der Saison. Warf einen zwei-Tore-Vorsprung in Düsseldorf weg, als man das Spiel beherrschte und die Fortuna herumschubste wie einen indisponierten, obsessiven Polizisten außer Dienst. Bis Damir Kreilach ein furchtbares Eigentor schoss, bei dem der Ball in Zeitlupe ins Tor flog – lähmend und schockierend, wie aus einem sadistisch bebilderten Comic. Union verlor zu Hause gegen Aue, als ein Sieg weiter die geteilte Tabellenführung bedeutet hätte. Sie verloren in Stuttgart und Hannover und dann in fucking Braunschweig. Danach war es still im Bus. Die Spieler dachten darüber nach, wie leicht die Blase ihrer lang gehegten Träume platzen konnte. Es brauchte einige Tage, bis sie sich von dieser leidenden Selbstbetrachtung lösen konnten.

Für viele war das nichts anderes als die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge. Vielleicht schafften es die Spieler nicht, die Lektion zu verinnerlichen, die Keller und Pedersen ihnen die ganze Zeit über erteilt hatten. Vielleicht dachten sie noch immer, dass die Dinge irgendwann unweigerlich schief gehen würden. Vielleicht waren sie so die Architekten ihres eigenen Verderbens, ihr eigenes Schicksal immer vor Augen. Glorreich zu verlieren ist bei vielen Vereinen eine Sünde, weil sich alle auf das „Verlieren“ konzentrieren. Bei Union hört man immer nur das, was zählt. Glorreich.

Jens Keller und Henrik Pedersen, Foto: Matze Koch

Natürlich hat Henrik eine Theorie zu den Gründen für den Niedergang nach dem Sieg gegen Nürnberg. Sie geht größtenteils mit Michas Meinung konform: “Was passiert ist, ist, dass wir gut gespielt haben, dass wir unsere Identität etabliert haben. Und wenn das passiert ist, wollen Menschen sich schützen, ihre Stellung beschützen, weil sie Angst haben, sie zu verlieren.” Aus Angst hatten sie aufgehört, nach neuen Lösungen zu suchen. “Und dann fangen wir, bevor wir Fußball spielen, mit dem Denken an. Und wenn wir anfangen darüber nachzudenken, können wir nicht mehr einfach aufs Feld gehen und unseren Fußball spielen. Genau das ist passiert, als wir Erster waren. Wir dachten, ‘Puh, jetzt sind wir die Nummer 1. Wir haben lange darum gekämpft, jetzt sind wir hier.’ Und dann wurden wir ängstlich. Wir fragten uns, ob das wirklich wahr sein konnte. Können wir uns erlauben, so gut zu sein?”

Stuttgart und Hannover hatten schon mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Sie standen unter größerem Druck als Union, doch sie waren größer, weiser und stärker und konnten besser damit umgehen. Sie hatten sich zurückgekämpft, während Union sich zu fürchten begann.

The magic number

Jens und Henrik sind sich sich in einer Bar in der Türkei begegnet. Bei einem Bier diskutierten sie ihre Weltanschauungen und den immerwährenden Konflikt zwischen Herz und Hirn, die Notwendigkeit, technische Strukturen formbar genug zu gestalten, ihre Form an allzu menschliche Eigenschaften anzupassen. Und sie sprachen über Fußball, das Spiel das beide fast mehr als alles andere lieben, aber dass keiner von ihnen mehr wirklich spielen kann, sei es wegen des Alters und fehlender Zeit oder Gebrechen. Oder eine Kombination all dieser Dinge. Die Partnerschaft der beiden ist eindeutig eine Symbiose, beide haben einen weiß glühenden Ehrgeiz, und jeder bringt etwas hinein, was der andere nicht geben kann. Aber es ist auch deutlich erkennbar eine Freundschaft. Beide sprechen schwärmend voneinander, sie verbringen im Training viel Zeit damit, über Fußball oder Taktik zu sprechen oder über Herzen und Geist, während sie ihre Spieler in etwas Entfernung im Blick behalten. Keller vertraut Henrik nicht nur implizit, er scheint in seiner Anwesenheit auch sanfter zu werden.

Foto: Matze Koch

“Jens wartet auf dich, Henrik. Du hast gesagt, dass du ihn mit nach Hause nimmst.”
“Ja, aber ich bin grade beschäftigt. Kannst du ihn nicht mitnehmen?”
Dieser Satz verwirrt den Mitarbeiter von Unions Medienteam, er klopft seine Jacke nach Schlüsseln ab, die nicht darin sind: “Ich habe kein Auto.”
“Na, dann sag ihm, er soll warten.”

Etwa fünf Minuten später erscheint der Chef durch den Tunnel, der auf den Platz führt, und wartet geduldig, während Pedersen fortfährt, dem Autor, der neben ihm auf der Trainerbank sitzt, etwas zu erklären.

“Du hast gesagt, du würdest mich mit nach Hause nehmen. Bist du demnächst soweit?”
“Ich mache das hier nur eben zu Ende, fünf Minuten.”
Der Autor beeilt sich, Konfrontation ist nicht sein Ding. Er mag keinen Ärger.
“Kein Problem,” sagt Pedersen, “er kann warten.”

Auf seinem Weg nach draußen passiert der Autor Keller. Der steht am Eingang des Stadions und spielt abgelenkt auf seinem Telefon, schaut auf, als er ihn sieht und sagt freundlich: „Auf Wiedersehen.“ Er wartet nur auf seinen Freund Henrik, diesen coolen Typ aus Dänemark, der Menschen durch und durch versteht, sich aber auch mit den Details von hohem Angriffspressing auskennt, über Stunden über die Grundlagen modernen Fußballs reden kann. Wie man sich am besten zum Ball stellt und wann genau man ihn annehmen sollte. Wie man seine Mannschaft auf den Punkt vorbereitet, um gefährlich zu werden. Wann man sich besser zurückzieht, um ihr eine Verschnaufpause zu geben. Wann man den Ball die Arbeit machen lässt.

“Wir passen sehr gut zusammen,” sagt Keller über Henrik: “Wir haben den gleichen Sinn für Humor, wir verstehen uns gut auf einer menschlichen Ebene. Henrik ist außerdem ein sehr erfahrener Trainer, er hat das seit seiner Jugend gemacht, er hilft mir, zusammen mit meiner Erfahrung – ich habe in der Champions League trainiert …” sagt Keller ohne Not. Wir wissen schon, dass er gut ist. “Wir ergänzen uns sehr gut.”

Foto: Matze Koch

Natürlich gibt es noch einen dritten Teil des Trainertriumvirats bei Union. Im Training und vor Spielen sind es nicht Keller oder Pedersen, die das Aufwärmen, die Schussübungen und Laufdrills der Spieler anleiten. Sebastian Bönig ist auch Teil der Mischung. Ein Mann, der nicht nur, wie Micha Parensen, eine 3.-Liga-Meisterermedaille, sondern auch, und noch wichtiger, eine der Oberliga gewann. Neuhaus hatte ihn in seinem zweiten Jahr bei Union aussortiert, weil er sich vom Status Bönigs bedroht fühlte und weil es nötig war, die Abwehr zu verjüngen. Böni hingegen, der in Bayern geboren wurde, aber im Herzen Berliner ist, sollte der werden, der immer wieder zurückkommt. Er kam als Spieler vom Abstellgleis zurück und er kam zurück, nachdem er als Unternehmer gescheitert war – dieses Mal als Trainer.

Er ist die Seele dieses eigenwilligen kleinen magischen Kreises. Als Verbindung zur Vergangenheit und für die Fans als Erinnerung daran, wo dieser Verein herkommt. „Er kennt den Verein in- und auswendig“, sagt Keller. „Er kennt die Strukturen, weiß wann, ob und warum Dinge passieren. Er ist ein jüngerer Coach und lernt von uns, aber er ist auch zu 100% da, sehr gründlich in seiner Arbeit. Er ist eine unglaubliche Hilfe auf unserem weiteren Weg.“

Böni ist wichtig, weil Henrik und Jens …, nun, weil sie nicht zu einem Verein wie Union passen dürften. Sie sind ein merkwürdiges Paar, aber abseits des Blicks der Medien scheinen sie wieder normal. Vor allem Keller zeigt dann manchmal eine wärmere Seite, die man sich in anderen Situationen nicht vorstellen kann. „Ich weiß nicht, ob die Fans mich verstehen. Ich denke, sie respektieren die Arbeit, die ich hier geleistet habe. Aber ich denke auch, ich verstehe sie. Sie sind emotional, unterstützend. Sie sind außerordentlich. Ich glaube, wir passen gut zueinander.“

Im Frühstücksfernsehen, inmitten einer Flut von Medienauftritten, zu denen er nach dem Sieg gegen Nürnberg durch die Fernsehstudios des Landes geschleift wurde, stellte der Moderator Keller die Frage, warum er sich entschieden habe, in Köpenick zu wohnen, und nicht im Prenzlauer Berg bei all den anderen Schwaben. Die Frage implizierte, dass Keller nicht dorthin gehöre, dass Köpenick nur für Deutschlands größten Hochstapler und den böswilligen Hass der NPD bekannt sei – dass Keller also nur dorthin gezogen sei, um sich bei den Fans einzuschleimen. Es müsse letztlich irgendein Trick sein.

Keller will davon nichts hören. Als er die Gelegenheit hatte, eine wohlklingendes Zitat zu seiner Nähe zur spirituellen Heimat seines Clubs zu machen, sagt er stattdessen, er wolle nun mal nah an seiner Arbeit sein. Er habe keine Lust, jeden Morgen eine dreiviertel Stunde im Auto zu verbringen.

Auf diese direkte Art ist es die Antwort eines Berliners. Er sagt, man könne denken, was man wolle, das interessiere ihn nicht. Er ist hier, um einen Job zu machen. Um anderen dabei zu helfen, Fußball zu spielen.

Unions Anhängerschaft hat sich in den letzten zehn Jahren stark gewandelt. Es sind nicht mehr zu einem Großteil die Söhne von Arbeitern aus Oberschöneweide, Schlosserjungs. Aber das heißt nicht, dass sie den Sinn dafür verloren hat, was sie ausmacht und verbindet. Als die modernsten Außenseiter in der Fußballwelt und gute Freunde mit verrückten Ideen, passen Keller und Pedersen hervorragend zu Union.

Endless Love

I have all of life’s treasures
And they are fine and they are good
They remind me that houses
Are just made of wood
What makes a house grand
Ain’t the roof or the doors
If there’s love in a house
It’s a palace for sure
(Tom Waits)

Als Jens Keller zum ersten Mal auf die dicht gefüllten Ränge des Stadions an der Alten Försterei blickte, wusste er, dass fast alle da waren, die dort seien sollten. Aber nicht alle. Marios Frau Janine war nicht da.

Foto: Matze Koch

Die beiden waren zusammen zu ihrem ersten Union Spiel gegangen, einer Niederlage gegen Unterhaching, ungefähr 2002, und es war der Beginn einer ganz neuen Welt für Janine. Sie war gefangen, bezaubert von diesem schönen Mann und diesem, seinem Verein, bei dem sie genau so sehr dazu gehörte wie alle anderen. Innerhalb kurzer Zeit, scheinbar in wenigen Tagen, hatte sie einen Effekt auf Union, dessen Ausläufer noch heute zu spüren sind. Wenn jemand, der ein Spiel Unions im Rollstuhl besucht, nur ein wenig freundlicher angeschaut wird, eine etwas bessere Sicht hat, ihr Weg ein bisschen unbehinderter, liegt das an Janine. Bis Janine sich dagegen aussprach, durften Fans in Rollstühlen nicht einmal eine Fahne mit ins Stadion nehmen. Sie nahm das nicht hin, und trat unermüdlich für die ein, die wie sie im Rollstuhl saßen, aber nicht, weil sie etwas besonderes wären und besonderer Fürsorge bedurften. Sie handelte nicht aus Mitleid, sondern weil eben auch diese Menschen Fußballfans waren und jemanden brauchten, der sich für ihre Belange stark machte. Sie war ein Tiger, vollkommen furchtlos.

Janine war in den nächsten 15 Jahren bei jedem Treffen, jedem sozialen Termin. Sie kannte alle. Jeder kannte und liebte, sie. Sie drängte Union dazu, Dinge richtig zu machen, und ließ sich nicht davon aufhalten, gelegentlich auf Betonwände zu stoßen. Mario erzählt, dass einmal ein hochrangiger Funktionär des Vereins in einem Punkt, den sie monierte, nicht nachgab. Also sprach sie stattdessen mit Dirk Zingler, wandte sich direkt an die Spitze des Vereins. Und bekam, was sie wollte. Sie bekam immer, was sie wollte – etwas, das sie als Judoka in den späten Jahren der DDR gelernt hatte.

Foto: Stefanie Fiebrig

Im Judo nutzt man die vermeintliche Stärke anderer gegen sie, der Schwung des Gegners ist das eigene effektivste Mittel. Der Kleinste kann immer den Größten besiegen, es gibt im Judo keinen Schwächsten. “Das war ihre Persönlichkeit. Sie hatte diese Überzeugungskraft, sie musste nicht streiten”, sagt Mario, der Mann, der sie liebt und den sie mehr liebte als alles andere in der Welt. Selbst mehr als ihren Verein.

Mario hat nur eine der jährlichen Mitgliederversammlungen verpasst, er war erkältet. Wie sich herausstellte, war es die, auf der Janine eine bronzene Ehrennadel erhielt. Mario lacht noch immer darüber. Er dachte, damals, die Erkältung sei das Schlimmste. Aber es war nur eine Erkältung.

Doch eine Woche oder zwei vor dem ersten Heimspiel der Saison, kollidierte Marios Motorrad – Janine saß hinter ihm – seitlich mit einem Wagen, der plötzlich vor ihnen auf die Straße bog. Das Motorrad lag danach hilflos auf der Seite, eine Tonne nutzloses Metall, aus der einige Zeit Flüssigkeiten liefen. Der Mann und das Kind in dem Auto konnten es auf ihren eigenen Beinen verlassen, dankenswerterweise unverletzt. Dann erschienen zwei Hubschrauber, Marios war rot, Janines gelb.

Und Mario überlebte, Janine nicht.

Sie hatten viel über den Tod gesprochen zuvor. Nicht aus Morbidität, sondern Pragmatismus. Janine hatte lange mit ihrer Multiplen Sklerose zu kämpfen, und sie liebten es, dass Fans in anderen Ländern zum Gedenken an Verstorbene nicht still bleiben, wie es bei uns üblich ist. Stattdessen wird ihrem Leben applaudiert. Mario bat den Verein, es ähnlich zu halten, wenn Union etwas für Janine tun würde.

Foto: Tobi/unveu.de

Christian Arbeit, Presse- und Stadionsprecher des Vereins, sagte Mario, er solle sich darum keine Gedanken machen. Sie würden sicherstellen, dass Janines Wunsch in den Minuten vor dem ersten Heimspiel der Saison erfüllt würde. Gegen Dresden. Während Arbeit dem ausverkauften Stadion von Janine erzählte, musste er sich Mühe geben, nicht die Fassung zu verlieren. Nach einer kurzen Pause sagte er mit brechender Stimme, dass der besten Weg um sich von Janine zu verabschieden wäre, so viel Krach wie möglich zu machen. Und während man sich umschaute, sah man, wie es hunderten Menschen ging wie Christian, wie sie schluckten, um ihre Kehlen zu befreien, sich auf ihre Lippen bissen, ihre Hände so hart es ging zu Fäusten ballten, sie so sehr anspannten, dass ihre Knöchel weiß hervortraten und das Blut aus ihnen heraus gedrückt zu werden schien – sie taten alles, nicht zusammen zu brechen, um nicht aus Frustration gegen die Wände zu schlagen, weil diese schöne Frau nicht auf einem der Plätze stehen konnte, den sie für Unioner wie sie erkämpft hatte. Die Kapos vor dem Dresdner Auswärtsblock gaben gleichlautende Anweisungen. Sie war auch eine von uns, sagten sie. Nicht nur Unionerin. Sie war ein Fußballfan.

Und als der Schiedsrichter pfiff, um den Beginn des minutenlangen Applaus zu markieren, brach das Stadion aus, wie vorher, seitdem und hoffentlich danach nie wieder. Es grollte wie Donner, bis das Dach sich schüttelte und die Grundfesten bebten. Der Krach überwältigt die Tribünen bis es jede Strebe, Mutter und Niete erzittern ließ, und jeder Grashalm in dem Stadion, das sie so liebte. Er kam von Dresdnern und Unionern. Es war kein Schlachtruf, es war ein Schrei von Erschütterung und Respekt, und von unendlicher, nicht sterbender Liebe. Er war Janines Andenken gewidmet, aber auch Mario, um ihm zu sagen, dass sie sich auch um ihn kümmern würden. Dass seine Familie für ihn da sein würde.

Mario hat seitdem Janines offizielle Stellung bei Union übernommen. Er ist es jetzt, der sich für die Rechte von Fans mit Behinderungen bei Union und im Rest des Landes einsetzt. „Nein, es wird nicht einfach sein. Aber es ist wichtig. Ich muss irgendwie damit weiter machen, für Janine. Denn sie liebte diese Aufgabe. Union war alles für sie.“ Es gibt im Stadion noch immer nicht genügend Rollstuhlplätze. Mario wird kämpfen, das zu ändern. Wie ein Tiger, auch er.

„Ich bin jemand, der immer nach vorn geht. Auch jetzt, aber … ich vermisse sie. Ich habe meine Mutter verloren, als ich 18 war, sie war 36 und hatte Lungenkrebs. Mein Vater ist vor acht Jahren gestorben. Aber trotzdem, Janine zu verlieren – es gibt nichts Schlimmeres. Wir haben alles zusammen gemacht.“

Foto: Matze Koch

Als Jens Keller zum ersten Mal auf die dicht gefüllten Ränge des Stadions an der Alten Försterei blickte, wusste er, dass fast alle da waren, die dort sein sollten. Aber nicht alle waren da.

“Es war ein sehr schwerer Moment für mich. Ich hatte eine sehr gute Freundin, die auch erst drei Wochen zuvor gestorben war, und es war ….” Jens Keller hinterlässt nie den Eindruck, nicht zu wissen, was er sagen soll. Aber in diesem Moment verstummt er. “… Das ist, warum es für mich so ein bewegender Moment war. Ja, weil ich an sie gedacht habe, und auch, weil dann … naja, Ich habe so etwas noch nie in einem Stadion erlebt, ein Trauerfall und so eine Atmosphäre von Zusammenhalt.”

Und wisst ihr, was das Bemerkenswerteste an dieser Geschichte ist? Den ganzen Abend über schrie niemand ein einziges ‘Scheiß Dynamo’. Kein einziges. Dass die Dresdner solchen Respekt und Liebe für Janine gezeigt hatten wurde in der gleichen Weise zurückgegeben. Im Tod brachte sie die verhassten Rivalen zusammen – wenn auch nur ein winziges Stück.

Sunday Morning, Coming Down

Henrik ging nach dem Schlusspfiff beim Unentschieden in Düsseldorf sofort in die Kabine. Sie hatten eine 2:0 Führung weggeworfen, und das sollte sich tatsächlich als der Anfang vom Ende herausstellen. Der Kader begann nun, ein wenig zerrupft auszusehen, der Atem wurde schwerer, die Schritte mit jeder Minute merklich mühsamer. Sie waren an den Grenzen ihrer Möglichkeiten gelangt. Ihnen fehlte die Erfahrung und der Killerinstinkt. Kreilach unterliefen zwei Eigentore in drei Spielen. Leistner machte Fehler, Puncec ebenso. Skrzybski hatte sich schlussendlich kaputt gelaufen und Polter war gesperrt für das entscheidende Spiel gegen Braunschweig, bei dem die Mannschaft einen großen, starken Anführer wie ihn mehr denn je gebraucht hätte. Henrik versuchte, mit ihnen zu reden, er sagte den Spielern: “Es ist nur Erfahrung, und es ist nur Fußball. Können wir nur an die nächste Situation denken und Entscheidungen treffen mit Geduld und Ruhe und … “ – er sucht nach dem richtigen Wort, aber als es ihm einfällt, ist klar, dass es eigentlich schon lange offensichtlich war, denn schließlich weiß er, dass es das ist, was diesen Verein wirklich antreibt “… Liebe.”

Aber es sollte nicht sein.

Als Maxi Thiel ein paar Wochen später vom Rasen in Braunschweig trottete, hätte man ihm vergeben, gemischte Emotionen zu zeigen. Er hatte endlich die Verletzung überwunden, die seine junge Karriere fast zerstört hätte. Er hatte es endlich ans Ende des Tunnels von Rehamaßnahmen, Operationen und Rückschlägen geschafft, von endlosen Wochen im Einzeltraining, um sein Knie wieder aufzubauen, und von schlaflosen Nächten der Sorge, es könnte nicht weitergehen. Vor ein paar Jahren, in der Mitte der ganzen Scheiße, sagte er dem Kurier: “Es wäre einfach schön zu wissen, wo das alles her kommt.” Und jetzt traf er in seinem ersten Spiel zurück in der Mannschaft – kein schönes Tor, sondern eins, bei dem er den Ball am schon fallenden Torwart vorbei spitzelte, langsam die Torlinie entlang, bis er gerade so am langen Pfosten ins Tor rollte – aber das traumhafte Comeback war nicht komplett.

Wären Märchen wahr, hätten Country Songs unrecht, hätte dieses Tor Union helfen müssen, seinen Weg zurück ins Spiel zu finden und von da weiter, nach vorne, auf dem Weg in die Bundesliga und die Geschichtsbücher. Aber das Leben läuft selten so wie in unseren Träumen. Schon in diesem Moment wusste Thiel, dass es eine seiner letzten wichtigen Aktionen in Köpenick sein würde. Ihm war bereits mitgeteilt worden, dass er Union am Ende der Saison verlassen würde.

Die Geschichte von Unions viertem Platz in der Zweiten Bundesliga 2016/17 ist die Geschichte ihrer besten Liga-Saison aller Zeiten, und trotzdem fühlte sie sich in dieser Nacht wie eine Niederlage an, eine vergeigte Pointe eines ansonsten super erzählten Witzes. Ein Dämon hatte auf die Mannschaft gewartet, versteckt hinter der Ecke und nur für sie sichtbar.

Keller sah die Leistung seiner Mannschaft trotzdem positiv. Immer wieder sprach er davon, “Stolz zu sein. Stolz auf alles, was wir erreicht haben über die gesamte Saison. Ich bin stolz darüber, wie die Spieler sich entwickelt haben und wie wir den Verein nach vorn gebracht haben, dass Deutschland etwas mehr auf uns aufmerksam geworden ist. Ich war stolz darauf, wie wir in Dortmund gespielt haben. Wir alle können das sein mit Blick darauf, was wir gemacht haben.” Union ist jetzt kein Geheimtipp mehr, und es wird im nächsten Jahr schwerer werden: „Aber das ist der Grund, warum ich hier bin. Um Union in der Bundesliga zu trainieren.“

In Braunschweig schrien die mitgereisten Fans ihre Mannschaft nach vorn, wie sie es die gesamte Saison über getan hatten, aber diesmal noch etwas lauter. Etwas Neues war zu hören in ihren Gesängen, die den ganzen Abend über das Heimpublikum überstimmt hatten. Es war in ihrem Lächeln zu sehen und im Glänzen ihrer betrunkenen Augen. Stolz floss von den Rängen wie Wasser über die Niagara-Fälle. Maxi hatte Mühe, Tränen zurück zu halten. Er war verwirrt. Vielleicht war das sogar besser als ein Sieg. Es fühlte sich jedenfalls für eine Niederlage komisch an. Es war nicht normal, alle seine Hoffnungen zusammenbrechen zu sehen und sich trotzdem so warm aufgefangen und beschützt zu fühlen.

Auswärts in Braunschweig, Foto: Jan Hollants

Micha Parensen war der Erste, der nach der 3:1 Niederlage zu Mario und den Fans in den Rollstühlen rüber ging, um ihnen für ihre Unterstützung zu danken, sie wissen zu lassen, dass er um sie besorgt war und sie liebt, und dass Union ohne ihre Unterstützung gar nicht erst so weit gekommen wäre. Er wurde auf Mario aufmerksam, und lächelte länger als er es seit einer Weile getan hatte. Trotz des Ergebnisses. Sie hätten sich schwer getan, ohne Janine an diesen Punkt zu gelangen. Es ist der Ethos dieses Vereins, den Parensen, der langjährige Spieler, der Berliner, implizit versteht: “Wir versuchen, das als Mannschaft zu leben. Diese Dinge sind ein großer Teil davon, was Union ausmacht. Woraus Unions Identität besteht. Wir dürfen das nicht verlieren, …” Er weiß nicht recht, wie er den Satz beenden soll. Er muss es auch nicht.

In der Woche nachdem Union die Spitze der Zweiten Liga erreichte, sprach ich mit Andreas Lorenz, dem früheren Sportchef des Berliner Kuriers. Ich traf ihn bei einer öffentlichen Veranstaltung mit den beiden besten Freunden Toni Leistner und Sebastian Polter. Beide schüttelten geduldig unzählige Hände und beantworteten jede noch so alberne Frage von jungen Mädchen und erwachsenen Männern mit Geduld und Respekt und ohne jegliche Allüren. Lorenz sagte: „Du musst nicht unparteiisch sein. Das ist auch unmöglich.“ Er weiß so gut wie sein ehemaliger Kollege und altgedienter Union-Reporter Mathias Bunkus, dass es keinen Weg gibt, von diesem Verein nicht emotional mitgenommen zu werden. Lorenz meint weiter: „Wenn du deinen Job gut machst und verstehst, was in einem Fußballverein wirklich passiert, und wenn das alles irgendetwas bedeuten soll, dann kann man sich nicht helfen, sich ein bisschen in den Club zu verlieben.“ Wo zur Hölle wäre sonst der Sinn des Ganzen. “Politische Journalisten stehen auf einer Seite. Musik- oder Theaterkritiker stehen auf einer Seite … Alle haben eine Seite, die sie unterstützen.” Andreas und Bunki sind Gentlemen, und beide sind stolz auf ihre adoptierte Heimat. Es ist ansteckend. Oder, um es mit Henrik zu sagen: „Ich denke, wir müssen von unseren Fans lernen. Ich sage den Spielern: ‘Wenn ihr lernt, euch gegenseitig so zu helfen, wie unsere Fans das tun, werden wir auf dem Feld keine Angst spüren.’”

Auch Janine hat uns das beigebracht, obwohl sie es hassen würde, wenn Leute das sagen. Sie hat uns beigebracht, nicht ängstlich zu sein. Sie hat alle willkommen geheißen, und sie würde wie ein verdammter Tiger kämpfen, wenn jemand nicht behandelt wird, wie alle, jeder einzelne, Unioner behandelt werden sollten.

Für die meisten Vereine wäre ein vierter Platz in der Liga kaum Grund zu feiern und so überwältigend viel Dank, Liebe, Freude und Hingabe zu zeigen. Aber Union ist weit davon entfernt, irgendein Verein zu sein. Und wie Andreas sagt, man kann sich nicht helfen, in diesen Kosmos hinein gezogen zu werden. Als die Wellen von Applaus zu Janines Ehren aus allen Ecken des Stadions an der Alten Försterei übereinanderschlugen vor dem Spiel gegen Dresden, liebte ich diesen Fußballverein und kann mir, ganz ehrlich, kaum vorstellen, vorher jemals so stolz gewesen zu sein.

Der Text erschien zuerst auf Englisch und wurde übersetzt von Daniel Roßbach, Gero Langisch, Hans-Martin Sprenger und Sebastian Fiebrig.

* Das Zitat ist aus dem Englischen zurückübersetzt und stimmt deshalb nicht wörtlich mit dem Originalzitat aus dem Text von Torsten Schulz überein.


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13 Kommentare zu “Von Dämonen und Tigern. Die Menschen bei Union und ihre Saison 2016/17.

  1. Ich würde aus Wolfgang Wiese noch Hesl machen, ansonsten gibts „nichts zu meckern“ (berlinerisch für: „Danke für diese tolle Zusammenfassung!“)

  2. R. Ingrisch

    Pure Gänsehaut, brrrrrrrrrrrr !!! Union ist einer der Vereine von denen es nicht viele vergleichbare gibt !!!

  3. Danke. Einfach nur Danke!

  4. Schade, dass es hier keinen Like-Button gibt …..

  5. Vielen Dank für diesen Text, der alles ausdrückt, was ich an diesem Verein so liebe.

    Musste grad den Kloß im Hals runterschlucken.

    Eisern
    Stefan

  6. Ich mag diesen Vergleich nicht- doch das ist perfekter Guardiola Fußball in Textform. Tolle Textstafetten mit einem traurig wunderbar passenden Höhepunkt, der ein tolles Drama beendet und einen weiteren Teil ankündigt. Tolle Übersetzung eines tollen Textes.

  7. Kurt Ingles

    großartiger text! mindestens pulitzer preis.

    vielleicht macht man eine initiative hinsichtlich m. Laucks grab. vielleicht findet sich eine lösung…

  8. Ganz toller Text. Einen großen Dank auch für die Übersetzung ins Deutsche.

    Wäre bei Mäcki Laucks Grab dabei.

  9. Oh mein Gott. Man hätte diese Saison nicht besser in Wort packen können. Männer verdrücken sich die Tränen. Wir dürfen nicht aufhören, mit unser Liebe und Leidenschaft zu unserem Verein zu geht, denn wir sind der Verein.

  10. […] Natürlich gibt’s auch die deutsche Übersetzung vom Textilvergehen. […]

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